»Wieder frei und sicher«
Die EU-Spitzen beschwören zum Jahrestag der Römischen Verträge eine solidarische Weiterentwicklung der EU – und sparen nicht mit Selbstkritik.
eines einzelnen Landes oder einer Gesellschaft, es war die Niederlage einer Ideologie. Das Paradoxon der momentanen Situation ist, dass wir die Revolte der Gewinner erleben. Trumps Amerika und die populistischen Regierungen Osteuropas sind nicht bereit, die liberale Welt als die ihre anzuerkennen. Und es ist das osteuropäische Paradoxon, das den heutigen Herausforderungen der EU zugrunde liegt. Die Union kann nur mit liberalen Demokratien überleben, aber in Osteuropa wurde die Demokratie als Alternative zum Liberalismus entworfen.
Sechzig Jahre danach ist vieles anders geworden. 3000 Soldaten, Carabinieri und Polizisten bewachen den Kapitolshügel in Rom, Terrorangst geht um. Demonstrationen für und gegen das gemeinsame Europa ziehen durch die Stadt. Der Rahmen der Feierlichkeiten zu 60 Jahren Römische Verträge am gestrigen Samstag war symptomatisch für ein schwierigeres, zersplittertes Europa. Und doch waren die anwesenden 27 Staats- und Regierungschefs bemüht, diesmal – zum historischen Anlass – auch ein Fünkchen Hoffnung zu vermitteln.
Alle Zufahrtsstraßen zum Konservatorenpalast sind gesperrt, das Forum Romanum an diesem Tag geschlossen, jede Ecke der Innenstadt von Polizisten bewacht. Die Menschen müssen sich wieder „frei und sicher“fühlen, heißt es in der beschlossenen Erklärung von Rom. Die Widersprüchlichkeit ist Teil dieser Gemeinschaft geworden, mancher interne Zwist ebenso.
In einem wesentlichen Punkt zeigen sich die angereisten Gipfelteilnehmer der Problematik sehr bewusst: „Europa ist nur stark im globalen Maßstab, wenn wir uns zusammentun. Allein haben wir keine Perspektiven“, sagt Bundeskanzler Christian Kern. Keiner verschweigt mehr, dass genau darin das Problem der Gemeinschaft während der jüngsten großen Krisen lag. Will die Gemeinschaft künftig noch stark sein, muss die Zusammenarbeit der nach dem Austritt Großbritanniens verbliebenen 27 wieder zurückkehren. Sogar Papst Franziskus hat die politische Elite Europas bei einer Audienz am Vorabend der Feierlichkeiten an das Solidaritätsversprechen vor 60 Jahren erinnert. Sollte die EU keine neuen Visionen entwickeln, könne sie auch scheitern, hat er gewarnt. „Die Angst, die man häufig wahrnimmt, findet nämlich ihren tieferen Grund im Verlust der Ideale.“
Dass es um einen Wert geht, der rasch wieder verloren gehen kann, daran erinnert EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. „Seit den 60er-Jahren ist die Wirtschaft des gemeinsamen Europa um 33 Prozent mehr gewachsen als jene der USA.“Dessen bewusst, müsse die EU endlich aufhören, sich in Details und unterschiedlichen Positionen zu verzetteln, sondern das Große ins Auge nehmen. „Die EU ist zu oft fern der Bürger und zu bürokratisch.“
Über dem Kapitol kreisen Hubschrauber, Metro-Stationen sind gesperrt. 60 Jahre danach ist das gemeinsame Europa augenscheinlich unsicherer geworden. Die Herausforderungen sind enorm: Der Terrorismus, die Migrationsströme, die gewaltsamen Proteste sind ein so offensichtliches Problem geworden, dass es die Regierungsspitzen nicht mehr aussparen oder übertünchen können. „Die EU steht vor nie da gewesenen Herausforderungen auf globaler und nationaler Ebene: regionalen Konflikten, Terrorismus, wachsendem Migrationsdruck, Protektionismus sowie sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. Sie enthält ein Bekenntnis zum Schutz der Außengrenzen, aber auch eine zur internen Freizügigkeit.
Nach historischen Filmaufnahmen, die Konrad Adenauer zeigen, als er am 25. März 1957 seine Unterschrift unter den EWG-Vertrag setzte, ist ein Stück Offenheit angesagt: Der eben erst wiedergewählte EU-Ratspräsident Donald Tusk spart nicht mit Kritik an jenen Regierungen, die sich in den vergangenen Jahren vor der Verantwortung gedrückt haben. Und er prangert offen die Pläne von Deutschland und Frankreich für eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten an. Nach seinem schwierigen Konflikt mit der politischen Führung seiner Heimat, Polen, die ihn gern als Ratspräsident abgesetzt hätte, schaut Tusk ungewohnt selbstbewusst in die Runde der Staatsund Regierungschefs. „Prüfen Sie sich jetzt selbst einmal, ob Sie die Taten der Helden vor 60 Jahren noch weiterführen können und wollen.“
Es ist warm geworden an diesem Frühlingstag in Rom. Letztlich setzen alle 27 ihre Unterschrift unter das neue Solidaritätsversprechen. Sogar der zuletzt wieder rebellisch gewordene griechische Ministerpräsident, Alexis Tsipras, ist dabei und seine ebenso boykottfreudige polnische Kollegin, Beata Szydło. Nur eine fehlt: Die britische Regierungschefin, Theresa May, ist nicht mehr angereist. Sie will die EU nicht retten, sondern kommende Woche offiziell den Austrittsantrag übermitteln.