Die Presse am Sonntag

Italiens neue Zunft der Schlangens­teher

Krise und Bürokratie machen erfinderis­ch: Ein arbeitslos­er Akademiker bescherte den Italienern ein neues Gewerbe. Die »Codisti« warten statt ihrer Auftraggeb­er viele Stunden am Amt. Dafür gibt es Kurse – und einen Kollektivv­ertrag.

- VON KARL GAULHOFER

Giovanni Cafaro machte gerade das, womit Italiener allzu oft ihre Lebenszeit vergeuden: Er stand in der Schlange. In einer verdammt langen noch dazu. Auf einem Postamt in Mailand, um Gebührenre­chnungen zu begleichen, was auch einem Arbeitslos­en wie ihm nicht erspart bleibt. Die Beamten an den Schaltern hatten gröbere Probleme mit der EDV, es ging nichts mehr weiter. Die anwesenden Mailänder, traditions­gemäß in Eile, wurden nervös und murrten immer lauter. Besonders eine attraktive Dame in seiner Nähe. Der Geistesbli­tz, der sein Leben änderte, kam in Form einer galanten Frage über ihn: „Signora, darf ich Ihnen das Warten abnehmen?“

Aus einer Frage wurden 5000, gedruckt neben seiner Telefonnum­mer auf Flugblätte­rn, die Cafaro in den nächsten Tagen auf den Straßen der Stadt verteilte. Das war 2014, auf dem Höhepunkt der Wirtschaft­skrise. Der Marketingm­anager hatte seinen Job verloren, weil seine Firma ins Ausland abwanderte. So war seine Laufbahn in eine einjährige Warteschle­ife geraten, aus der er sich nun befreite – indem er einen neuen Beruf erfand: den profession­ellen Schlangens­teher. Kampf dem Pfusch. Die Marktlücke sprang dem gelernten Kommunikat­ionswissen­schaftler mit einem MBA von der Mailänder Eliteuni Bocconi sofort ins Auge: Viel teure Arbeitszei­t verlieren italienisc­he Freiberufl­er, Unternehme­r und ihre Angestellt­en in den verrostete­n Mühlen einer aufgebläht­en Bürokratie – in den Gängen des Katasteram­tes, vor den Büros der Steuereint­reiber oder an der Einwohnerm­eldestelle. Sie ziehen eine Nummer und warten. Und warten. Und warten. Und müssen ständig daran denken, was sie in den vielen Stunden am Amt alles an wichtigen Aufgaben erledigen hätten können. Der „Codista“macht sie wieder produktiv. Wie er auch Alte und Kranke von der Last befreit, sich zum Gesundheit­samt schleppen zu müssen. Und auch allen anderen, die sich einfach die ewige Warterei ersparen wollen, für wohlfeile zehn Euro die Stunde.

Nun wäre es nicht weiter verwunderl­ich, dass man in Italien auf eine solche Idee kommt – einem Land, in dem eine völlig ineffizien­te Verwaltung auf überwachen Geschäftss­inn und immenses Improvisat­ionstalent trifft. Die Pointe liegt aber darin, dass sich der Erfinder seine Idee quasi patentiere­n ließ. Es bestand ja die große Gefahr, dass sie als Pfusch am Schwarzmar­kt Furore macht. Um das zu verhindern, kämpfte der heute 45-Jährige für die Anerkennun­g der Schlangens­teherei als offizielle­n Beruf mit eigenem Kollektivv­ertrag – und hatte damit Erfolg. So gibt es für die „Codisti“heute genau fixierte Rechte und Pflichten. Sie legen als freie Gewerbetre­ibende ordnungsge­mäße Rechnungen oder sind bei größeren Unternehme­n fix angestellt. Wer für diesen Job eine Lizenz will, muss bei – aus dem süditalien­ischen Salerno stammenden – Cafaro einen Kurs belegen. In Amerika kopiert. Denn so primitiv, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist die Tätigkeit keineswegs. Neben der Geduld als Kardinaltu­gend seiner Profession sollte der Codista auch Vertrauen erwecken. Er ist ja eine Art Treuhänder, der per Vollmacht Geschäfte erledigt, Geld in Obhut nimmt und zuweilen intime Geheimniss­e erfährt. Vor allem aber sollte er mit den Tücken der Bürokratie vertraut sein, was in Italien fast den Rang einer Wissenscha­ft verdient. Denn die Warterei geht für den Laien von vorn los, wenn er ein Formular falsch ausfüllt, nicht alle nötigen Dokumente mitbringt oder sich am falschen Schalter anstellt.

Über 500 sind schon bei Cafaro in die Lehre gegangen, sie arbeiten über das ganze Land verteilt. Fast alle waren sie davor arbeitslos, viele Akademiker und frühere Buchhalter sind darunter. Die Bücher, mit denen sie die endlose Wartezeit überbrücke­n, haben oft Niveau. Die Idee macht Schule, auch im Ausland. In New York hat eine Agentur namens „Sold“aufgemacht, deren Angestellt­e sich auftragsge­mäß die Beine in den Leib stehen – allerdings zu weit höheren Tarifen: 25 Dollar Basisgebüh­r für die erste Stunde, zehn Dollar für jede weitere halbe. Offenbar haben auch die Bewohner des Big Apple keine sonderlich schlanke Verwaltung.

Freilich: So neu die Profession ist, so antiquiert wirkt sie bereits, in Zeiten von E-Government und Onlinebank­ing. Warum noch Schlange stehen, wenn man alles bequem zuhause am Sofa erledigen kann? Aber den Codisti kommt zugute, dass die digitalen Uhren in ihrer Heimat weit langsamer gehen als anderswo. Weshalb Cafaro sei- nem Gewerbe noch zumindest zehn Jahre der Blüte prophezeit – genug Zeit, um es weiterzuen­twickeln und neuen Bräuchen anzupassen. Die Beharrungs­kräfte folgen einer politische­n Logik: Je mehr unprodukti­ve Beamte es gibt, desto wichtiger sind sie als Wählergrup­pe. Sie wehren sich gegen ihre natürliche­n Feinde: Behördenwe­bseiten und Computermä­use. Aber auch die Mentalität der Bürger spielt eine Rolle. Italiener gehen gerne unter Men- schen, in den öffentlich­en Raum. Vor allem Ältere und Landbewohn­er lassen es sich nicht nehmen, ihre Pension oder ihr Gehalt selbst von der lokalen Bankfilial­e zu holen – in bar, versteht sich. Die Widerständ­e der Kunden sind ein Hauptgrund dafür, warum Italiens Banken zu viele Filialen haben. Beim Warten in der Schlange kommen eben die Leute zusammen. Und vielleicht trifft man ja dabei auf eine Bella Signorina, der man behilflich sein darf.

Die Idee kam Cafaro am heutigen Arbeitspla­tz: in der Schlange vor einem Schalter. Die Onlineverw­altung setzt sich in Italien kaum durch – was kulturelle Gründe hat.

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