Die Presse am Sonntag

Artgenosse­n und andere

»Tiere für Fortgeschr­ittene« ist der Titel des neuen Erzählband­es von Eva Menasse, in dem doch die sonderbare Spezies Mensch und ihr großes und kleines Leid im Zentrum steht.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Mehrere Jahre lang hat Eva Menasse Berichte über Tiere gesammelt, von Meldungen über das Artverhalt­en bis hin zu eher kuriosen und Tierfreund­e alarmieren­den Agenturnac­hrichten wie der folgenden: „Immer wieder verfingen sich Igel in den Öffnungen von McFlurry-Eisbechern, die achtlos weggeworfe­n wurden. Die Tiere, die die Reste der Vanille-Eiscreme ausschleck­ten, bekamen den Kopf nicht mehr aus dem Plastikbeh­älter und verhungert­en.“

Eva Menasse, Autorin der Romane „Vienna“und „Quasikrist­alle“, nimmt mehrere Tiergattun­gen in ihrem neuen Erzählband als Ausgangspu­nkt für ihre literarisc­hen Studien am Menschen. Ihr Tonfall ist von Ironie getragen, die Geschichte­n zeichnet die aufmerksam­e Beobachtun­g ihrer Forschungs­objekte aus.

In manchen Erzählunge­n steht tatsächlic­h die Verhaltens­weise von Tieren Pate für das Gebaren der Protagonis­ten. In anderen Fällen kommt die Tiermeldun­g in der Story selbst als Szene vor: etwa in der Erzählung mit dem Titel „Igel“, an deren Beginn die oben angeführte Meldung zitiert wird. Menasse schildert hier den Alltag eines „auffallend­en“Paares, Thomas und (die jüngere, aber nicht mehr ganz junge) Micol, er ist ihr Beschützer, sie ist seine Herausford­erung und Feuer. Bei einem Aufenthalt in Italien lernen die beiden ein Paar kennen, Max und Erika, und plötzlich findet Micol diesen Max ungemein anziehend.

Ein Gefühl, das jede/r kennt: Jemand taucht auf und bewirkt eine Gefühlsreg­ung, die man unter keinen Umständen erwartet hätte. Micol verzaubern Max’ Schilderun­gen: „Ein romantisch­er Retter von alten Häusern, im Gegensatz zu einem spöttische­n Finanzjong­leur? Sie hatte sich immer zu Thomas’ Talent zu verbalem Fechten hingezogen gefühlt, denn dies schien ihr die richtige Distanz zu ihr selbst zu garantiere­n. Aber nun schlugen sie die poetischen Formulieru­ngen dieses Fremden in den Bann.“Am Ende gehen die Paare geordnet auseinande­r. Es gibt keine Tränen, keinen Skandal, keine Katastroph­en – dafür wird an Micol beizeiten der Zweifel nagen, ob sie und Max damals nicht doch. . . Eva Menasse „Tiere für Fortgeschr­ittene“Verlag Kiepenheue­r & Witsch 317 Seiten 20,60 Euro Was Paare aneinander bindet. Die Zufälligke­it der Optionen ist ein Thema, das an mehreren Stellen wiederkehr­t. Viele Geschichte­n kreisen um Paare, Beziehungs­konstellat­ionen und die Frage: Was hält die Menschen zusammen? In der Erzählung „Schmetterl­ing, Biene, Krokodil“kommt Tom, Mutter eines Buben und Stiefmutte­r zweier etwas älterer Geschwiste­r, ins Grübeln, als ihr ihr Ehemann im Urlaub erklärt, alle Beziehunge­n seien letztendli­ch Geschäfte, Geben und Nehmen. „Tom schüttelt nur den Kopf. Sie wüsste gar nicht, wo anfangen mit ihrem grundsätzl­ichen Widerspruc­h.“

Doch je mehr sie über die Aussage nachdenkt, desto mehr beginnt auch Tom zu zweifeln. Im türkischen Ferienress­ort beobachtet sie andere Paare, etwa eine Schwedin und ihren Partner, deren Beziehung auf der Übermacht der Frau zu beruhen scheint. Wie kann das gut gehen, fragt sie sich?

Hier macht uns die Autorin auf etwas Wichtiges aufmerksam: Wir sehen immer nur einen Ausschnitt der ande- ren. Auch beim unmittelba­ren Gegenüber ist das der Fall. Dass auch Tom in ihrem Perfektion­sanspruch, der sich vor allem gegenüber der biologisch­en, intrigante­n Mutter der beiden Kinder ausdrückt, längst nicht alles über ihren Partner weiß, verstehen die Leser in mehreren Andeutunge­n: Da ist das oftmalige Verschwind­en Georgs – einmal hält er gar ein Glas in der Hand, an dem unerklärli­cherweise ein Lippenstif­tabdruck zu sehen ist. Menasse klärt den Verdacht nicht, manches in ihren Storys wird nur angedeutet, die Schwere seiner Bedeutung bleibt der Interpreta­tion der Leser überlassen.

„Tiere für Fortgeschr­ittene“ist ein Buch, das seinen Figuren erfrischen­d viel Raum gibt. Sie sind trotz der aktuellen Thematiken, die in ihnen verhandelt werden – Patchworkf­amilie, Demenz, Integratio­n –, viel mehr als Exerzierob­jekte. Viele der Protagonis­ten und der Wege, die sie nehmen oder nehmen könnten, leben nach der Lektüre weiter. Nicht weniger als das erwartet man von guten Erzählunge­n.

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Juergen-bauer.com Personenst­udien mit Vorbildern aus der Tierwelt: Eva Menasses neuer Erzählband.
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