Die Presse am Sonntag

Die Sphinx im Kanzleramt

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Konstantin Richter fabuliert in seiner amüsanten Novelle über Angela Merkel, einen Schlüsselm­oment ihrer Ära und ihren Spagat zwischen Emotion und Rationalit­ät. Seit bald zwölf Jahren ist Angela Merkel nun schon im Amt, und längst gilt sie als mächtigste Frau der Welt. Niemand indes weiß, wie die Sphinx im Kanzleramt im Innersten tickt – außer vielleicht ihre engsten Mitarbeite­r und Joachim Sauer, ihr Mann. Wie wäre es, ihren ausschweif­enden Gedankengä­ngen beim Besuch der Wagner-Oper „Tristan und Isolde“bei den Bayreuther Festspiele­n zu folgen und sich dabei vor dem Hintergrun­d der Flüchtling­skrise des Jahres 2015 in den Kopf der nüchtern-kühlen Regierungs­chefin hineinzufa­ntasieren?

Der Politikerr­oman, anderswo ein beliebtes Genre, hat in Deutschlan­d keine Tradition. In seiner Novelle „Die Kanzlerin“, die ihren Reiz aus der Verschränk­ung zwischen Privatem und Politische­m bezieht, wagt der Journalist Konstantin Richter das Experiment. Er rückt ein Schlüsselm­oment der Ära Merkel in ein neues Licht und fabuliert über die Evolution der rationalen Politikeri­n, die sich zur Irritation ihres Umfelds eine Zeit lang ihren Emotionen hingibt.

Wie sie aus der Routine ausbricht, bei einem dänischen Riesling und zu den Streicherk­längen Mozarts ihr Credo in der Flüchtling­spolitik formuliert und sich von der „Willkommen­skultur“hinreißen lässt; wie sie einen syrischen Flüchtling sponsert; wie sie einmal mit ihrem Mann beim „Griechen“diniert oder einmal zwischen Telefonate­n mit Staatschef­s in der Datscha in der Uckermark aufkocht: Das entwickelt einen Sog, liest sich recht amüsant – und endet mit einer hübschen Pointe. vier Konstantin Richter: „Die Kanzlerin. Eine Fiktion“, Verlag Kein & Aber, 176 Seiten, 18,50 Euro.

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