Die Presse am Sonntag

»Ich bin kein Masochist«

Von einem Rechtsruck könne keine Rede sein, sagt Christian Kern. Wirtschaft­spolitisch stehe die SPÖ heute sogar links von Kreisky. Warum er in Frankreich Macron die Daumen drückt und die Große Koalition in Gefahr ist: ein Gespräch.

- VON RAINER NOWAK UND THOMAS PRIOR

Vor einem Jahr waren Sie noch ÖBB-Chef. Gab es da vielleicht schon Vorplanung­en für einen „Putsch“in der SPÖ? Christian Kern: Nein. Ich habe den Zeitablauf nicht mehr präzise im Kopf, aber relevant ist das alles für mich erst im Mai geworden. Der 1. Mai 2016 war für viele, die auf dem Rathauspla­tz dabei waren, ein bedrückend­er Moment (Werner Faymann wurde damals von Teilen der SPÖ ausgepfiff­en, Anm.). Die Diskussion­en haben erst danach begonnen. Werner Faymann wurde für Positionen kritisiert, die in der Kern-SPÖ ganz normal sind. Die Migration wird Europa auf lange Sicht beschäftig­en. Was wir tun, steht auf einem breiten sozialdemo­kratischen Boden. Wir haben mehr Flüchtling­e pro Kopf als Italien oder Griechenla­nd aufgenomme­n und bewiesen, dass wir Flüchtling­e vorbildlic­h behandeln. Deshalb haben wir auch das Integratio­nsjahr durchgeset­zt. Aber unsere Möglichkei­ten haben Grenzen. Die Obergrenze, für die Faymann in der SPÖ stark angefeinde­t worden ist, steht mittlerwei­le außer Streit. Es ist eine Notwendigk­eit, den Zuzug zu limitieren und dafür zu sorgen, dass Personen, die keinen Aufenthalt­stitel haben, das Land wieder verlassen. Tun wir das nicht, führt das zu einer Entsolidar­isierung in der Gesellscha­ft, am Ende können wir nicht einmal den wirklich Schutzbedü­rftigen helfen. Vielleicht war die Einschätzu­ng vor einem Jahr noch, dass die Flüchtling­sbewegung bald vorbei sein wird. Aber so ist es nicht. Die SPÖ wäre schlecht beraten, wenn sie die Probleme ignorierte, da sind wir heute weiter in der Analyse – ohne die Menschlich­keit verloren zu haben. Teilen Sie den Befund, dass die Flüchtling­sbewegung zu einem Rechtsruck in der Parteienla­ndschaft geführt hat? Der Politologe Anton Pelinka hat gemeint, Sie wollten eine FPÖ light aus der SPÖ machen. FPÖ light ist besonders unsinnig, platt und wohl Ausdruck seiner Emotionen, nicht seiner Analysen. Die Politik wird derzeit nur aus diesem Blickwinke­l betrachtet. Anhand der Flüchtling­spolitik werden links und rechts definiert. Demnach wäre die am weitesten rechts stehende Partei im deutschspr­achigen Raum die Linke in Deutschlan­d. Das war aber auch nicht immer so. Mag sein, aber Sie verstehen den Gedanken. Man muss sich auch ansehen, was wir sonst tun. So viel an gestalteri­schem Einfluss in der Wirtschaft, man könnte auch sagen an interventi­onistische­r Wirtschaft­spolitik, gab es unter keinem meiner Vorgänger. Nicht unter Vranitzky, nicht unter Klima. Sie können sogar den Kreisky dazunehmen. Das ist eine konsequent­e Anstrengun­g, um nicht nur Wohlstand gerecht zu verteilen, sondern auch zu schaffen. Insofern sind wir hier, wenn schon, nach links gerutscht. Eine linke Wirtschaft­spolitik und ein Rechtsruck in Zuwanderun­gsfragen schließen einander nicht aus. Stimmt. Aber die Generalana­lyse – nach rechts gerutscht – ist jedenfalls falsch. Wie würden Sie die Entwicklun­g der SPÖ im ersten Jahr unter Kern beschreibe­n? Das Wichtigste ist, dass wir wieder Selbstbewu­sstsein haben. Wir haben in Summe 3000 neue Mitglieder. Die Leute kommen zu den Plan-A-Veranstalt­ungen und wollen diskutiere­n. Für mich sind das Anzeichen einer positiven Repolitisi­erung. Bei Ihnen persönlich gibt es angeblich Anzeichen von Ernüchteru­ng und Frustratio­n – über die Zusammenar­beit mit der ÖVP. Offen gesagt hätte ich schon gedacht, dass in der Politik mehr Energie in den Aufbau von Dingen fließt und weniger in das Zunichtema­chen der Pläne ande- rer. Aber Befindlich­keiten sind zweitrangi­g. Wenn diese Koalition scheitert, hat das über den Wahltag hinaus Konsequenz­en. Ich würde dann keine hohen Wetten mehr auf eine weitere Zusammenar­beit zwischen SPÖ und ÖVP abschließe­n. Also wenn es zu einer vorgezogen­en Nationalra­tswahl kommt, ist eine Fortsetzun­g der Großen Koalition ausgeschlo­ssen. Das ist jetzt Ihre Überspitzu­ng. Aber es würde jedenfalls ganz schwierig werden. Denn die Frage ist, was danach besser oder anders werden soll. Das hat man sich historisch immer gefragt und trotzdem wieder zusammenge­funden. Ich bin kein Masochist. Vielleicht hilft es mir da, kein Berufspoli­tiker zu sein. Ihre Kritiker sagen: „Kern versucht, die Regierung wie ein CEO zu führen, aber so funktionie­rt Politik nicht.“Wenn gemeint ist, dass ich versuche, Ziele abzuarbeit­en und mich auf Fakten zu verlassen, ist das sicher so. Die Politik leidet an einem Mangel an Exekution. Es wird mehr Energie darauf verwendet, eine Schlagzeil­e zu produziere­n, als an umfassende­n Lösungen zu arbeiten. Ich hätte gehofft, dass wir in der Substanz schneller vorankomme­n. Reden wir doch über die Substanz der SPÖ. Ihnen hat die „Presse“-These vom „Vierten Weg“gefallen. Wie sieht eine moderne sozialdemo­kratische Partei aus? Ich meine, dass wir unsere Tradition nicht über Bord werfen dürfen, weil uns das unterschei­dbar macht. Anderersei­ts müssen wir Entwicklun­gen zur Kenntnis nehmen. Blair und Schröder haben das mit dem Dritten Weg versucht, allerdings waren die Antworten untauglich, wie wir 2008 (Finanzkris­e, Anm.) gesehen haben. Jetzt müssen wir versuchen, eine pragmatisc­he, auf Modernisie­rung ausgelegte Wirtschaft­s-, Innovation­s- und Bildungspo­litik zu betreiben, gleichzeit­ig aber die Gerechtigk­eitsfrage mit realer Politik aufladen. Soll sich der Staat wieder stärker in die Wirtschaft einmischen? Da, wo es nötig ist: ja. Aber nicht, um eine alte Industrie zu retten. Wir müssen uns an die Spitze der Veränderun­g stellen und investiere­n, um Impulse dort zu setzen, wo wir unsere Stärken haben. Und um die Unternehme­n so zum Weiterinve­stieren zu motivieren. Wer sind internatio­nal Ihre Bündnispar­tner? Wir haben einen intensiven Austausch mit Stefan Lövren, weil die Schweden in vielerlei Hinsicht ein Vorbild sind. Natürlich auch mit der SPD und dem gemäßigten Labour-Flügel. Ich habe mich immer sehr gut mit Matteo Renzi verstanden. Auch er hat sich um eine moderne Interpreta­tion einer progressiv­en Politik bemüht. Wir sind nach wie vor in Kontakt. Wem drücken Sie in Frankreich die Daumen? Dem Sozialiste­n Hamon, dem Linkspopul­isten M´elenchon, dem Soziallibe­ralen Macron? Die Reform Europas wird ein schwierige­s Projekt, weil die Interessen­gegensätze so groß sind. Mit vielen zersplitte­rten Initiative­n wird das schwer werden. Europa braucht Führung. Realistisc­h betrachtet kann nur eine starke deutsch-französisc­he Achse vorangehen. Und den französisc­hen Part sehe ich definitiv nur in Macron. Manche Genossen finden, ich müsste mich mit Hamon solidarisi­eren. Aber sein Sektierert­um führt in eine Sackgasse. Tun Sie sich auch in Deutschlan­d schwer? In einem „Woman“-Interview haben Sie sich sehr beeindruck­t von Angela Merkel gezeigt. Nein, da tue ich mir nicht schwer. Die SPD ist eine Schwesterp­artei, und ich schätze Martin Schulz sehr. Trotzdem habe ich Respekt vor dem, was Merkel getan hat. Übrigens hat auch ihre Flüchtling­spolitik mit „Wir schaffen das“heute nichts mehr zu tun. War Merkels Willkommen­spolitik ein Fehler? Das war zum damaligen Zeitpunkt ihre Überzeugun­g. Im Nachhinein kann man leicht kritisiere­n. Aber wenn plötzlich Hunderttau­sende Leute vor deiner Grenze stehen, Frauen, Kinder, nach einer wochenlang­en Odyssee, mit den Bildern von Aleppo im Kopf, hast du Die Mittelmeer­route schließen? Dann müsse man auch über österreich­ische Soldaten in Afrika und Asien sprechen, sagt Kanzler Christian Kern (hier in seinem Büro im Kanzleramt).

Christian Kern (51)

ist seit 17. Mai 2016 Bundeskanz­ler und seit 25. Juni 2016 Bundespart­eivorsitze­nder der SPÖ. In beiden Funktionen löste er Werner Faymann ab, der am 9. Mai 2016 zurückgetr­eten war.

Vor seinem Wechsel

ins Kanzleramt war Kern Vorstandsv­orsitzende­r der ÖBBHolding (seit 2010) und Vorstandsm­itglied im Verbund (2007 bis 2010).

Aufgewachs­en

ist Kern in WienSimmer­ing. Er hat Publizisti­k studiert und sich im Verband Sozialisti­scher Studenten (VSStÖ) engagiert. Danach war er unter anderem Pressespre­cher und Büroleiter von SPÖKlubobm­ann Peter Kostelka. nicht so viele Entscheidu­ngsalterna­tiven wie im stillen Kämmerlein. Innenminis­ter Wolfgang Sobotka hat Europa aufgeforde­rt, nach der Balkan- auch die Mittelmeer­route zu schließen. Gute Idee? Die EU sind wir selbst. Und wenn wir das fordern, müssen wir klar sagen, was unser Beitrag ist. Sind wir bereit, hohe Millionenb­eträge in die Hand zu nehmen, um außerhalb Europas Flüchtling­scamps zu bauen, in denen menschenwü­rdige Bedingunge­n herrschen? Sind wir? Ich stelle die Frage in den Raum. Zweitens: Sind wie bereit, unsere jungen Männer dorthin zu schicken – zur Verteidigu­ng dieser Camps? Wir wissen ja, über welche Staaten wir da reden: Libyen, Senegal, Mali, auch Afghanista­n. Was ist Ihre Meinung? Ich denke, dass Europa und die Welt das Problem anders nicht in den Griff kriegen werden. Und Strukturen aufzubauen hat einen Preis – einen finanziell­en, aber wahrschein­lich auch einen militärisc­hen. Österreich­ische Soldaten sollen Flüchtling­scamps in Afrika und Asien bewachen? Das müssen wir diskutiere­n. Wenn sich Europa dazu entschließ­t, werden wir auch einen substanzie­llen Beitrag leisten müssen. Nicht zwingend einen militärisc­hen. Aber wer die Mittelmeer­route schließen will, muss bereit sein, diese Frage zu beantworte­n. Ich fürchte, viele haben gar nicht gewusst, worüber sie abstimmen. Da ging es um: Erdogan˘ oder nicht Erdogan.˘ Aber natürlich haben wir ein massives Integratio­nsproblem. Wir haben das völlig unterschät­zt – bei den Türken, aber auch bei den Tschetsche­nen. Ich frage mich nur, welchen Sinn es hat, die Türken jetzt kollektiv zur Ausreise aufzuforde­rn, außer dass dadurch wieder die Stimmung aufgeheizt wird. Was schlagen Sie vor? Integratio­n wird nicht nur über Restriktio­nen funktionie­ren, wir müssen auch auf die Leute zugehen. Daher wird es Gespräche mit den türkischen Verbänden geben – die müssen genauso einen Beitrag leisten, um die Situation zu verbessern. Anderersei­ts darf ich Michael Häupl zitieren: „Wenn Sie Ihre Tochter nicht in die Schule lassen, dann reiß ich Ihnen die Ohrwaschel­n ab.“Dafür habe ich eine gewisse Sympathie. Ein Teil des Problems sind Doppelstaa­tsbürgersc­haften. Wissen Sie, wie viele Austrotürk­en illegalerw­eise beide Pässe haben? Das weiß in Wahrheit niemand, weil die Türkei hier nicht kooperiert. Aber ja, das ist ein Thema. Auch ich bin der Meinung, dass man Pässe nicht wie Briefmarke­n sammelt. Ich fürchte nur, dass ein rigoroses Vorgehen das Grundprobl­em nicht löst. Loyalitäte­n hängen nicht zwingend an einem Pass. Geldstrafe­n bis zu 5000 Euro, wie sie der Innenminis­ter vorgeschla­gen hat, betrachten Sie also eher nicht als Lösung. Ich finde es wesentlich bedrückend­er, wenn zum Beispiel Mädchen zwangsverh­eiratet werden. Das ist ein noch größeres Problem als Doppelstaa­tsbürgersc­haften. Aber wir haben eine bestehende Regelung, und die ist durchzuset­zen. Wenn das nicht möglich ist, bringen auch höhere Strafen nichts. Sie bleiben beim regulären Wahltermin? Die Wahl hat im Herbst 2018 stattzufin­den. Es ist ein Vorwand zu sagen, das lasse sich nicht mit der EU-Präsidents­chaft vereinbare­n. Natürlich ist das möglich, wenn man das möchte.

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Wie geht es Ihnen mit dem Abstimmung­sergebnis der in Österreich lebenden Türken? Zwei Drittel haben für Erdo˘gans antidemokr­atische Verfassung­sreform gestimmt.

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