Eine kleine Gemeinde und ihre 389 Straftäter
Die Justizanstalt Garsten sorgte durch eine vereitelte Revolte für Schlagzeilen. Das Hochsicherheitsgefängnis ist der größte Arbeitgeber in Garsten und steht mitten im Zentrum. Wie geht die Bevölkerung damit um, und wie gefährlich ist die Arbeit hinter Gi
Die Straßen der 7000-SeelenGemeinde sind halb leer. Nur beim Bäcker stehen ein paar Gäste an. Garsten ist ein kleiner, an diesem Vormittag noch recht verschlafener Ort, wie es ihn in Österreich so oder so ähnlich hundertfach gibt. Wären da nicht diese zwei statistischen Details: Im kleinen Garsten nahe Steyr leben Menschen aus 57 Nationen, und 389 Bewohner haben ein und dieselbe Wohnadresse: Am Platzl 1.
Es ist ein Gebäude in bester Lage. Gleich nebenan ist die Pfarrkirche, davor das Gemeindeamt und dahinter liegen der Fußballplatz, die Schule und das Freibad. Der gelb-weiße Barockbau ist nicht nur der Mittelpunkt des Orts, er ist auch die schönste Liegenschaft der Gemeinde. Nur die hohen, dicken Mauern, der Stacheldraht und die Gitterstäbe trüben das Bild. Denn Am Platzl 1 steht seit 1850 eine Strafanstalt.
Heute ist das ehemalige Benediktinerkloster eines von drei Hochsicherheitsgefängnissen in Österreich. Hinter den dicken Mauern sitzen 389 Männer. Darunter viele „richtig schwere Jungs“, wie es im Ort salopp heißt. Damit sind wohl die 35 zu lebenslanger Haft verurteilten Mörder und die 39 geistig abnormen Rechtsbrecher, die sich im Maßnahmenvollzug befinden, gemeint.
Die leicht überbelegte Justizanstalt Garsten ist ein soziales Pulverfass, in dem vor zwei Wochen ein großer Knall gerade noch verhindert werden konnte: 94 Beamte stürmten am Samstag um fünf Uhr morgens in das Gefängnis und vereitelten damit eine geplante Revolte. 15 Häftlinge wollten eine Massenschlägerei anzetteln, die Wachen überwältigen und flüchten. Die Vorbereitungen dafür waren weit gediehen. Bei den Durchsuchungen konnten Sturmhauben und selbst gebaute Hieb- und Stichwaffen gefunden werden. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art.
Medial mag das vielleicht aufregen. In Garsten nicht. Im nur wenige Meter entfernten Cafe´ schütteln die Gäste den Kopf: Nein, Thema sei das alles keines. Freilich habe man die Einsatzfahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit und Blaulicht gegen die Einbahn fahren sehen, aber deshalb sei man doch nicht beun- ruhigt. Es sei „ja schon ewig keiner mehr ausgebrochen“– einmal abgesehen von dem einen Häftling, der tagelang auf dem Kirchendach festsaß.
An den scheinen sich alle etwas älteren Garstner zu erinnern. Auch Bürgermeister Anton Silber (ÖVP) erzählt die Anekdote. Über den aktuellen Fall, von dem auch er nicht offiziell, sondern durch das Gerede im Ort erfahren hat, würde er am liebsten nicht mehr sprechen: „Würden wir jetzt nicht hier sitzen, hätte ich bereits einen Haken darunter gemacht. Das wäre Geschichte.“Die meisten Garstner hätten seit Kindheitstagen gut gelernt, mit dem Gefängnis zu leben. Man denke im Alltag keine Sekunde daran. Selbst Pfiffe aus den vergitterten Fenstern scheinen hier niemanden zu irritieren. „Es ist schon spannend: Vor der Mauer fühlen wir uns sicher“, sagt Silber. Eine Gemeinde in der Gemeinde. Die Welt hinter dem großen braunen Holztor und dem Stacheldraht ist den meisten Garstnern unbekannt. Auch dort ist nach dem Vorfall und der Verlegung einiger Drahtzieher der Revolte wieder Alltag eingekehrt. Etwa in der Wäscherei, wo ein stark tätowierter und vollbärtiger Häftling in Ruderleibchen und Jogginghose eine der überdimensional großen Wäschetrommeln mit Bettwäsche und Handtüchern belädt. Oder hinter der blauen Metalltür mit der Aufschrift „A-Küche“. In der Anstaltsküche kochen die Häftlinge Schinkenfleckerln und traditionelle Kost, so wird das Essen für Muslime genannt.
85 Prozent der Insassen gehen einer Arbeit nach. In den 18 Betrieben hinter Gittern wird nicht nur für den hauseigenen Bedarf gebacken, getischlert und gekocht. Auch andere Haftanstalten werden mit Produkten beliefert und selbst Aufträge von draußen, von Firmen und Privatpersonen, werden angenommen. Die Häftlinge binden Diplomarbeiten, reparieren Schuhe und zimmern Aufbewahrungsboxen für Goldhauben. Letztere werden sogar auf der Gefängniswebsite beworben. Die Justizanstalt Garsten ist mehr als nur ein Gefangenenhaus. Es ist ein großer Wirtschaftsbetrieb. Oder, wie es Major Christian Neubauer, der durch die Gemäuer führt, ausdrückt: „Es ist eine Gemeinde in der Gemeinde.“
Ganz ähnlich klingt das im wenige Meter entfernten Büro des Bürgermeisters. „Es ist eine Parallelwelt da drinnen“, sagt Silber. In dieser haben viele Garstner ihren Job gefunden. Die Anstalt ist der größte Arbeitgeber im Ort. 157 Justizwachebeamte und etwa 40 Vertragsbedienstete versehen dort ihren Dienst. Keine einfache Arbeit. Man sei, sagt Neubauer, nicht nur Aufseher, sondern auch der erste Ansprechpartner. Auch Verbrecher reden über Persönliches – etwa über den Fünfer im Zeugnis der Tochter oder die anstehende Scheidung. Er wolle als Beamter dabei nicht immer wissen, welch schweres Verbrechen sein Gegenüber einst verübt hat: „Irgendwann hört man auf, sich zu informieren, was ein Häftling genau gemacht hat“, sagt Neubauer.
Derzeit wird in Garsten „dringendst“nach Nachwuchsgefängniswärtern gesucht. Die zu finden ist schwierig. Das mag auch an den Negativschlagzeilen liegen. Die Arbeitsbedingungen würden immer gefährlicher, die Häftlinge rabiater, die Sprachbarrieren ob des hohen Migrantenanteils größer und die Chance auf Resozialisierung sei bei vielen gar nicht mehr gegeben. Das beklagte die Gewerkschaft der Justizwachebeamten erst kürzlich und forderte ein Ende des „Kuschelvollzugs“und mehr Durchgriffsrechte.
Von Gefahren und Spannungen hört man vor den Mauern der Strafanstalt Garsten nichts. „Darüber spricht man eigentlich nicht“, erzählt Bürgermeister Silber und ergänzt: „Man fragt ja auch nicht.“Selbst auf dem Fußball- platz, wo viele Justizbeamte in der Seniorenmannschaft kicken, weiß man wenig. Nur, dass die Häftlinge über den Bau der Stockschützenhalle verärgert sind, weil die ihnen den Blick von ihrer Zelle auf das Fußballfeld nimmt, hat sich herumgesprochen. Wenn die Beamten über Berufliches reden, dann würden sie sich lieber als Grüppchen ans andere Ende des Tisches setzen. „Ständiges Gefahrenpotenzial“. Am Besprechungstisch von Major Neubauer hört sich alles weniger dramatisch an als von der Gewerkschaft beschrieben: „Ich nehme es nicht so wahr, dass es gefährlicher geworden ist“, sagt er. Im vergangenen Jahr habe man in der Justizanstalt Garsten fünf Fälle von tätlichen Übergriffen auf Beamte zur Anzeige gebracht. Es sei schon immer ein Beruf mit „ständigem Gefahrenpotenzial“gewesen. Hier würden nun einmal „fast 400 Männer aus den verschiedensten Ethnien, die nahezu jegliches Delikt begangen haben, auf engstem Raum“, meist in Viererzellen, leben. Da seien Reibereien, Bandenbildungen und Schmuggel nur schwer zu vermeiden. Lückenlose Kontrolle gebe es nicht. „Dazu fehlen uns die Kapazitäten“, sagt Neubauer.
Die Veränderungen in der Häftlingspopulation sieht auch er. 43 Prozent der Insassen in Garsten haben keine österreichische Staatsbürgerschaft. Der größte Unterschied zu früher bestehe aber im Ausbildungsniveau der Häftlinge. Fachkräfte gebe es immer seltener. Das bemerkt auch der Bürgermeister. In der Vergangenheit habe die Gemeinde deutlich mehr Freigänger beschäftigt. Derzeit sei nur ein Maler im Einsatz. Im Ortsleben seien Häftlinge vor Jahrzehnten deutlich präsenter gewesen. Sie haben damals Handwerksarbeiten übernommen und sogar Häuser für so manchen Justizwachebeamten gebaut. „Heute ist die Abschottung nach außen stärker“, sagt Silber.
»Es ist schon eine spannende Geschichte: Vor der Mauer fühlen wir uns sicher.« »Irgendwann hört man auf, sich genau zu informieren, was ein Häftling gemacht hat.«
Zärtlichkeiten im Besucherzimmer. „Wir sind nach außen geschlossen und nach innen offen“, sagt Major Neubauer, während zwei Häftlinge auf dem Gang an ihm vorbeispazieren. Sie gehen allein in Richtung der Besucherräume. Die freie Bewegung ist den meisten erlaubt.
In den Besuchezimmern ist bereits reger Betrieb. Pärchen neben Pärchen hat hier Platz genommen. Manche sitzen einander stumm gegenüber, die Blicke leer, die Füße wippen ungeduldig. Andere tauschen kleine Zärtlichkeiten aus. So wie der Häftling, der seinen Kopf auf dem Tisch abstützt, und von seiner Freundin gestreichelt wird. Sogar einen Kuss auf den Hinterkopf gibt