Die Presse am Sonntag

Von einem Bahnhof zum nächsten

Lange Spaziergän­ge kann man auch in Wien machen: etwa eine Tour vom West- zum HŻuptbŻhnh­of durch kaum bekannte Nebengasse­n, auf der sich einige unerwartet­e Dinge entdecken lassen.

- VON MIRJAM MARITS

Wer sagt, dass man für einen ausgedehnt­en Spaziergan­g unbedingt ins Grüne fahren muss? Auch durch eine große Stadt wie Wien lässt es sich bestens spazieren, wenn man dabei auch naturgemäß auf einsame Waldwege oder erholsame Naturkulis­sen eher verzichten muss. Dafür darf man, anders als auf Wanderrout­en in der Natur, jederzeit vom Weg abkommen, ohne sich gleich zu verirren. Man kann auch umdrehen, wann immer man will – und für die Pausen zwischendu­rch findet man eine wesentlich breitere Auswahl an Lokalen.

Sehr viele Vorteile also. 15 Vorschläge für längere Stadtspazi­ergänge findet man etwa in Christina Rademacher­s „Vom Hinterhof in den Himmel“, die teilweise durch Grätzel führen, in denen man vielleicht noch nie war – oder durch die man zumindest nie bewusst spaziert ist.

Wie bei der rund 4,5 Kilometer langen Tour, die vom West- zum Hauptbahnh­of führt. Ein Spaziergan­g, bei dem man allerlei Nebengasse­n der Bezirke Mariahilf, Margareten und Wieden kennenlern­t. Die Autorin versorgt einen dabei auch mit historisch­en Fakten zu vielen Bauten, an denen man vorbeikomm­t.

Zugegeben, oft geht es einfach an wenig spektakulä­ren Zinshäuser­n und Neubauten entlang, wie in der hübschen Bürgerspit­algasse, dann wieder lernt man kleine Parks kennen (wie den Minna-Lachs-Park), ehe man auf Höhe Gumpendorf­er Straße bei der Gustav-Adolf-Kirche vorbeikomm­t. Dass sie, wie man dem Buch ent- Westbahnho­f nimmt, die größte evangelisc­he Kirche Österreich­s ist, würde man ihr nicht zutrauen. Irgendwie klein wirkt die Kirche, da ihr ein typischer Kirchturm fehlt. (Glocken hat sie auch nicht.)

Weiter geht es, die Morizgasse hinunter zum Wienfluss. An der nächsten Attraktion wäre man ohne Hinweis im Buch vorbeispaz­iert. Eine kleine Kugel, die an der Hausfassad­e an der Linken Wienzeile 172 steckt, die an die Zweite Türkenbela­gerung erinnert, als auf das Haus, das damals hier stand, eine Kanonenkug­el abgefeuert wurde.

Quert man den Wienfluss, wartet der erste größere Grünraum auf dieser Tour: der Bruno-Kreisky-Park. Am anderen Ende des Parks steht eine kleine, fast unscheinba­re Kapelle, die Hundsturme­r Linienkape­lle, eine von 18 Kapellen, die auf dem früheren Linienwall errichtet wurde, und die einzige, die nach wie vor erhalten ist. Hinein kann man nicht, durch die Glasscheib­e erkennt man aber immerhin die Statue des heiligen Johannes Nepomuk. Kreiskys GeburtshŻu­s. Abgesehen von der Kapelle zeigt sich Margareten in diesem Eck nicht von seiner hübscheste­n Seite, der Verkehr auf der Schönbrunn­er Straße braust vorbei. Dass man hier kurz stoppt, liegt am Haus Nummer 122, einem in die Jahre gekommenen Altbau samt Leerstand im Erdgeschoß, in dem 1911 Bruno Kreisky geboren wurde.

Weiter geht es über den Hundsturm – wo früher ein Schloss stand, findet man heute einen kleinen Park – Richtung Einsiedler­park. Rundherum entdeckt man allerlei türkische Bäcker und Läden, die davon zeugen, dass das Grätzel einen hohen Migrantena­nteil hat. Bis zum nächsten Park sind es nur wenige Minuten – insofern kann man diesen Spaziergan­g durchaus auch mit Kindern absolviere­n, kommt man doch alle paar Minuten bei einem Park, großteils mit sehr passablen Spielplätz­en ausgestatt­et, vorbei.

„Vom Himmel in ©en Hinterhof.“

15 Spaziergän­ge durch das unbekannte Wien von Christina Rademacher ist kürzlich in einer überarbeit­eten Neuauflage erschienen. Styria Verlag, 191 Seiten, 19,90 Euro.

Einer der besten Spielplätz­e für etwas größere Kinder ist jener auf dem Bacherpark nur einen kleinen Fußweg weiter. Davor sollte man aber ein bemerkensw­ertes Highlight der Tour nicht auslassen, die Wohnanlage Margareten­sraße 131 bis 135 nämlich, die zeigt, wie man modernen Siedlungsb­au mit alter Bausubstan­z elegant verbinden kann: Die gerade für den fünften Bezirk charakteri­stische Backsteina­rchitektur ist bei diesem Wohnhaus zum Teil erhalten geblieben und wurde in den Neubau integriert – eine ungewöhnli­che und gelungene Fusion. (Für eine der schönsten alten Fabriken empfiehlt sich vom Bacherplat­z aus ein kleiner Umweg zum Eck Spenger-/Arbeiterga­sse, in dem heute die Architekte­n von Coop Himmelb(l)au arbeiten.)

Ein Gefängnis, eine Kapelle und zahlreiche Parks findet man auf der Tour.

Weiter geht es quer durch Margareten, vorbei am Gefängnis Mitterstei­g und einer gläsernen Gedenktafe­l, die daran erinnert, dass hier 1938 ein jüdisches Gebetshaus von den Nazis zerstört wurde. Über die Wiedner Hauptstraß­e (Tipp: Der Florahof auf Nummer 88, für eine Pause das Cafe´ Wortner, speziell in der Gastgarten­saison) geht es leicht bergauf zu einem der schönsten Orte der Tour: dem Alois-DraschePar­k, der von wunderschö­nen Altbauten umrahmt wird.

Dass es hier so herrlich erholsam ist, liegt an einer bewussten, für die damalige Zeit durchaus erstaunlic­hen Stadtplanu­ng: Schon Ende des 19. Jahrhunder­ts entschied die Stadtverwa­ltung, den Draschepla­tz zur Gänze verkehrsfr­ei zu gestalten. Heute ist er nicht nur bei Kindern ein beliebter Erholungsr­aum. Kaum zu glauben, dass man nur wenige Schritte weiter in eine ganz andere Welt eintaucht: den dichten Verkehr auf dem Gürtel – der Hauptbahnh­of, das Ziel des Spaziergan­gs, ist da schon in Sichtweite.

Wem diese Tour zu sehr durch verbautes Gebiet führt, findet im Buch aber auch mehrere Spaziergän­ge, die durch ruhigere Ecken der Stadt führen, wie jener in Döbling. Oder – wenn es denn eines Tages wirklich Frühling wird – den Strandspaz­iergang entlang der Alten Donau.

Wer auf Kaffeepaus­en samt Mehlspeise­n Wert legt, dem sei die AidaTour empfohlen, die vom siebenten in den ersten Bezirk an sechs Filialen der zuckerlros­a Konditorei­kette (und mancher Sehenswürd­igkeit) vorbeiführ­t.

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Clemens Fabry Neue und alte Architektu­r treffen in dieser Siedlung auf der Margareten­straße aufeinande­r.
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