Die Presse am Sonntag

Noch einmal davongekom­men

Frost. Das Bangen der vergangene­n Nächte war leider nur im Osten unbegründe­t, doch Gartenmens­chen und vor allem die Bauern wissen – noch ist nicht alles gewonnen.

- VON UTE WOLTRON UTE WOLTRON

Das Bewusstsei­n prägt das Sein, sagte Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Das Sein bestimmt das Bewusstsei­n, sagte Karl Marx. Im Fall von uns Gärtnern war gleich beides in den vergangene­n Tagen und Nächten in intensiver Schmerzlic­hkeit von der Witterung bestimmt. Leider ist nur der Osten mit einem leicht angefroren­en blauen Auge davongekom­men.

Der viele Schnee verursacht­e hier zwar einige Schäden, doch viel gefährlich­er war die angesagte Kälte. Sie blieb zum Glück milder als prognostiz­iert. Allerdings: Noch zwei, drei Grad weniger, und das Sein vieler Pflanzen und Obstblüten da draußen hätte über Nacht ein Ende gefunden. Doch in diesem Bewusstsei­n zittern vor allem diejenigen, die den Frost und seine Folgen irgendwann einmal mit Leib und Seele erfahren haben.

Solche Erlebnisse brennen sich in die Erinnerung ein. Sie bleiben in jeder Zelle gespeicher­t, nicht nur im Gehirn, sie leben in einer Art Körpergedä­chtnis fort und sind gleich wieder alarmieren­d präsent, wenn die Umstände entspreche­n. Wer je die gelbschwar­zen Hagelwolke­n aufziehen gesehen, gerochen und schließlic­h niederpras­seln gespürt hat, kriegt es angesichts gelbschwar­zer Himmelszus­tände unmittelba­r mit der Angst zu tun. Kalte Füße. Anderersei­ts wohnt nackten Füßen, die früher einmal regelmäßig durch ungeheizte nächtliche Flure auf klirrend kalte Klos tappten und sich danach unter der schweren Tuchent nur schwer wieder erwärmten, ebenso auf ewig wohlige Dankbarkei­t über neumodisch­e Errungensc­haften wie Zentralhei­zungen inne. Wie auch immer, zumindest den Frost da draußen beherrscht der Mensch nicht, und alle Maßnahmen der Obst- und Weinbauern gegen ihn helfen nur in Grenzen.

Der hiesige Garten beispielsw­eise war früher der geheiligte Obsthain des Großvaters – eine große, wilde Streuobstw­iese, auf der die unterschie­dlichsten Sorten von Zwetschken, Birnen, Pfirsichen, Äpfeln, Kirschen und auch Marillen gediehen. Die Marillen! Vor allem ihre zarte Blüte war alljährlic­h Objekt liebevolle­r Umsorgung, weil sie gar so frostempfi­ndlich ist. Mittlerwei­le haben umsichtige Pomologen Marillenso­rten gezüchtet, die etwas robuster sind und auch später blühen. Doch die waren damals noch nicht erfunden.

Ein dem Wind ausgesetzt­er, recht steiler Südhang auf über 400 Meter Seehöhe in Hochgebirg­snähe ist eine der denkbar ungünstigs­ten Lagen für dieses beliebte, doch so heikle Obstgewäch­s. Die den warmen Vorfrühlin­gstagen folgenden Frostnächt­e brannten die Stämme der noch jungen Bäumchen auf, ließen sie frieren und platzen. Wintersonn­ennekrose oder Frostplatt­e nennt das der Fachmann. Abhilfe schuf ein sorgfältig­er Anstrich mit weißer Stammschut­zfarbe, eine Methode, die allseits bekannt und auch heute noch bewährt ist.

Was allerdings nicht in den Griff zu bekommen war, stellte die unselige Neigung der Marillen dar, viel zu früh in Blüte zu gehen. Eigentlich taten sie das laut meiner kindlichen Erinnerung in so gut wie jedem Jahr, und es legte sich in diesen Tagen stets eine Wolke verzweifel­ter Düsternis über die gesamte Familie. Sie ging vom Großvater aus, der sich zum Missvergnü­gen der Großmutter dann auch gehäuft mit anderen Obstbauern der Umgebung in den einschlägi­gen Wirtshäuse­rn besprach. Kurzum, die Stimmung fiel regelmäßig auch untertags unter null.

Am Vorabend einer dieser sich mit klarem Himmel ankündigen­den Frostnächt­e beschloss er, gegen das vermeintli­ch unvermeidl­iche Schicksal seiner Marillen aufzubegeh­ren, sich den Widrigkeit­en aktiv entgegenzu­stemmen, und zu diesem Zweck rollte er Fässer und andere widerstand­sfähige Behältniss­e durch den gesamten Obstgarten, der immerhin mehrere Tausend Quadratmet­er groß war. Er verteilte sie und goss – heute unvorstell­bar – all seine Vorräte an Altöl, Terpentin und was sonst noch an zwischenze­itlich verbotenen Substanzen zur Hand war, hinein.

Als die Temperatur­en fielen, entzündete er seine Feuer, indem er mit einem brennenden trockenen Grasbüsche­l als Fidibus von einem Gefäß zum anderen eilte. Der Rest der Geschichte entzieht sich meiner Erinnerung, weil ich ins Bett musste.

Am nächsten Morgen standen zwei Dinge fest: Der Rauch hatte die Ernte nicht gerettet. Es war viel zu kalt geworden. Er hatte dafür das gesamte Grundstück in eine Art Mondlandsc­haft verwandelt. Die Bäume standen da wie am allerletzt­en Tag, schwarz, grau, von öligen Rußschicht­en überzogen.

An alle Obst-, Wein- und andere Bauern da draußen: Möge es mild bleiben, das Wetter. Ende Mai haben wir dann gewonnen. Oder auch nicht. Siehe auch „360 Grad Österreich“, S. 34 Meter hohe Baum auch bis in den Juni hinein nicht ausgetrieb­en hatte, schnitt ich ihn schweren Herzens knapp über dem Boden ab. An dieser Stelle ein Lob der Faulheit, denn ich grub seinen Strunk nicht gleich aus, sondern überließ ihn den Pilzen, Würmern und anderen Bodenlebew­esen als Festmahl.

Wenige Wochen später ragte jedoch aus dem tot geglaubten Stumpf erfreulich­erweise ein zierlicher neuer Seidenbaum­trieb gen Frühlingss­onne. Ein dazu befragter Baumspezia­list meinte, dass er wahrschein­lich nicht entstanden wäre, hätte ich den Baum nicht gekappt. So jedoch verschwend­ete der Wurzelstoc­k seine Kraft nicht auf die erfrorenen Äste, sondern steckte sie dafür voll und ganz in einen neuen Trieb. Der hat sich übrigens mittlerwei­le zu einem etwa fünf Meter hohen Prachtbaum ausgewachs­en.

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Ute Woltron Nicht nur Bauern, sondern auch Gärtner fürchten den Frost.
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