Tausche London gegen Ottakring
Banker Gregory Bruh wollte seine Aktiencharts gegen etwas Greifbares eintauschen. Von der Deutschen Bank verschlug es ihn in die Wiener Vorstadt, wo er mit viel Herz und Risiko den angegrauten Kosmetikhersteller Dr. Temt neu aufbaut.
Gregory Bruhs Job war es, Trends zu erkennen, sobald sie sich abzeichnen. Wie auch die anderen 599 Investmentbanker im Londoner Großraumbüro der Deutschen Bank arbeitete er zwölf Stunden am Tag auf das Eckzimmer mit eigenem Fenster hin. Dann kam die Finanzkrise – und die Sinnkrise, die die Bankenlandschaft bis heute im Griff hat. Bruh erkannte den Trend, als er ihn sah: Das ist nichts Zyklisches mehr, das ist strukturell, sagte er sich. „Meine Augen waren offen, ich habe dort keine Zukunft mehr gesehen.“
Er wollte etwas zum Angreifen, etwas, an dem sein Eigenkapital und Herz hingen, nachdem er jahrelang mit dem Geld der anderen gearbeitet hatte, sagt Bruh. Und er wollte vor allem unternehmerische Freiheit haben. Dafür tauschte der Brite seinen Arbeitsplatz in der Londoner City gegen den Chefposten des 1947 gegründeten Ottakringer Kosmetikproduzenten Dr. Temt – mitsamt aller Schönheitsfehler und einer ordentlichen Portion Risiko. Reine Liebhaberei? „Die Firma hat heuer ihr 70. Jubiläum und ich mein zweites – und wir sind immer noch hier.“So selbstverständlich sei das nicht gewesen, erzählt Bruh. Als er antrat, lebte das Unternehmen, das vor allem Schönheitssalons beliefert, zu einem Großteil von seiner betagten Stammkundschaft, dem einstigen Ruf und großzügigen Zuschüssen des vorherigen Besitzers, Dr. Dieter Temt. Die vom Chemiker Walter Pauli kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründete Firma war mit ihren Augenbrauen- und Wimpernfärbemitteln und den Gesichtscremen eine Institution in der Kosmetikbranche, aber eine mit einer ordentlichen Patina. Die Erhaltung des Betriebs mit seinen damals noch mehr als 30 Mitarbeitern sei in den vergangenen Jahren Liebhaberei gewesen, erklärte die nette Dame am Finanzamt Bruh. Da habe er ein neues deutsches Wort gelernt.
Bevor er die Finanzen in Ordnung bringen konnte, musste der 39-Jährige aber die eigenen Mitarbeiter überzeugen, dass er kein profitgieriger Londoner Spekulant ist, der das marode Unternehmen schröpfen statt sanieren und anschließend zusperren will. Nach zwei Jahren und viel investiertem Kapital – ihm gehört die Ottakringer Fabrik zu drei Vierteln selbst – hat er sie von seinen ehrlichen Absichten überzeugt. Nach zwei harten Jahren hat Dr. Temt nun auch erstmals wieder eine schwarze Null in den Büchern stehen – die grobe Sanierung ist abgeschlossen, die Lieferantenlisten und Lager sind auf dem letzten Stand.
Aber für Gewinne braucht es Kunden diesseits der 70, die man schwer mit großen Tiegeln voller Karottenund Fettcremen lockt. Eine neue, junge Produktlinie musste her – die Chemiker in der Ottakringer Sautergasse hatten in den vergangenen Monaten viel zu tun.
Ihnen zu Hilfe kam ein Netzwerk aus internationalen Experten, wie es sich wohl nur wenige 23-Mann-Betriebe leisten können. Auf dieses konnte Bruh durch Zufall zurückgreifen: Sein Miteigentümer Wolfgang Schüller ist niemand anderer als der ehemalige Chef von Lipotec. Das Unternehmen beliefert Kosmetikhersteller auf der ganzen Welt mit aktiven Inhaltsstoffen für ihre Haut- und Haarmittel und wurde für viel Geld 2012 von Warren Buffetts Berkshire Hathaway gekauft. Noch vor seinem Buy-out machte Schüller wiederum die Bekanntschaft einer Koryphäe der Kosmetikbranche. Einer seiner Kunden war ein gewisser Sven Gohla, seines Zeichens damaliger Forschungsleiter der französischen Luxusmarke La Prairie. Sie ist bekannt für exklusive Linien mit Namen wie Kaviar oder Platinum. Entsprechend viel legen die Kunden für die Anti-Agingund Feuchtigkeitspflegen ab. Ebendieser Sven Gohla arbeitete nun an Gregory Bruhs neuer Serie mit, hier schließt sich der Kreis. „Die Wirkstoffformeln sind dieselben“, sagt Bruh, nur die Verpackung bestehe in ihrem Fall eben nicht aus Glas und schwerem Metall, sondern aus Kunststoff. Die Herausforderung sei, den kaufenden Kunden, der aufgrund der niedrigeren Preise skeptisch sein könnte, zu überzeugen, dass die Qualität dieselbe ist. Ein Handlungsreisender. In den kommenden Monaten soll die Marke Dr. Temt auf dem österreichischen Markt neu und frisch auftreten. Die Karottenund Fettcremen dürfen zwar bleiben, aber eher in der zweiten Reihe. In die erste will Bruh seine neue Kosmetikserie „Made in Austria“stellen, ein erster großer Schritt hin zum zahlenden Publikum wäre ein Platz im Regal der österreichischen Luxusparfümeriekette Nägele & Strubell. Um ihn bemüht Bruh sich zurzeit. In den kommenden Wochen wird er seinen Vorzeigekoffer mit den Tiegeln und Dosen auch mit auf Reisen nehmen – Kunden in Deutschland, den Niederlanden und den USA haben Interesse an der revitalisierten Wiener Marke bekundet.
Obwohl er mit der Vermarktungsarbeit erst ganz am Anfang steht, ist der Londoner optimistisch. Vielleicht rührt die Gewissheit, einiges richtig zu machen, aus seiner Zeit bei der Deutschen Bank her. Dort analysierte er die Aktien vieler Firmen aus der Luxus- und der Pharmabranche. Bruh weiß dadurch genau um den Wert, den ein Wiener Standort hat, in dem 99 Prozent der Cremen und Essenzen selbst produziert, abgefüllt, verpackt und versendet werden.
»Die Firma hat ihr 70. Jubiläum und ich mein zweites – und wir sind immer noch hier.« »Das hier muss ich nicht erst erfinden, ich muss es nur kommunizieren.«
Circa 1000 Hautpflegemarken gebe es auf dem internationalen Markt, zitiert er eine Studie von McKinsey – davon kämen und gingen aber jedes Jahr 200. Die hohe Fluktuation ist der Tatsache geschuldet, dass alle auf Lohn bei Partnern produzieren lassen, die wenigsten die Kompetenz gebündelt im eigenen Haus haben. „Das hier muss ich nicht erst erfinden, ich muss es nur kommunizieren“, sagt Gregory Bruh sichtlich stolz, während er durch die drei Stockwerke mit Lager-, Labor- und Büroräumen in seiner Ottakringer Fabrik führt. Das volle Risiko. Heute, mit halb Europa zwischen sich und seinem früheren Arbeitsplatz, könne er aber auch die Vorteile eines Konzerns mit 70.000 Mann sehen. „Jetzt, wo ich das Risiko allein trage“, fügt Bruh hinzu und lacht. Die gewonnene Zeit mit seiner Familie und die Selbstbestimmung würde er aber nie mehr gegen seinen alten Job eintauschen. Die Jahre in Wien hätten ihn auch in anderer Hinsicht demütig gemacht: Vor der Arbeit eines Sanierers – als der er de facto antrat – habe er heute den größten Respekt.
Sofern Dr. Temt in ferner Zukunft so laufe, wie er sich das vorstellt – die Marke etabliert, das Team eingespielt, die Expansion auf Schiene – werde er sich vielleicht nebenher einen neuen Sanierungsfall suchen, in den er Geld und Herzblut investieren kann.
Bis dahin lenkt Bruh in seinem Büro in der Sautergasse die Geschicke seines neuen alten Wiener Kosmetikproduzenten. Es ist zwar kein Eckzimmer, aber dafür muss er es auch nicht mit 599 anderen teilen.