Die Presse am Sonntag

Lautstark ohne Laute: Gehörlose im Filmporträ­t

Die Doku »Seeing Voices« folgt dem Alltag von Gehörlosen in Österreich – und räumt dabei mit Klischees auf. Ein einfühlsam­er, kluger Film von Dariusz Kowalski.

- VON ANDREY ARNOLD

Eines der größten Verspreche­n des Kinos ist die Möglichkei­t, sich in andere hineinvers­etzen zu können – nicht nur ideell, sondern sinnlich, mit Haut und Haaren. Das Stilmittel der Subjektive, expression­istische Ton- und Bildgestal­tung, Traumseque­nzen und Rückblende­n: allesamt Einfühlung­sportale zu Empfindung­swelten außerhalb der eigenen Wahrnehmun­gsdimensio­n. Doch jede solche Leinwander­fahrung, und sei sie noch so intensiv, bleibt phantasmat­isch. Es wäre absurd zu behaupten, nach der Sichtung eines Kriegsfilm­s wisse man, „wie es damals auf dem Schlachtfe­ld zugegangen ist“. Und genauso wenig ist das Kino imstande, einem hörenden Menschen die tatsächlic­he Lebensreal­ität eines Gehörlosen erfahrbar zu machen.

Aber es kann ihm eine Vorstellun­g davon vermitteln. Es kann Einblicke gewähren, Verständni­s schaffen, mit Klischees aufräumen. Es kann herablasse­ndes Mitleid mit aufrichtig­er Empathie ersetzen. Das ist schon enorm viel, und enorm viel wert. Wie sein jüngster Dokumentar­film belegt, ist sich der in Polen geborene und in Österreich tätige Regisseur Dariusz Kowalski dessen vollauf bewusst.

„Seeing Voices“ist ein kluges, einfühlsam­es Porträt der österreich­ischen Gehörlosen­gemeinscha­ft – ihrer Sorgen und Probleme, aber auch ihrer Hoffnungen und Freuden. Es folgt dem Alltag seiner sympathisc­hen Protagonis­ten in ruhigen Tableaus, versetzt den Zuschauer in die teilnehmen­de Beobachter­position. Kowalski, der ein Jahr lang Gebärdensp­rache gelernt hat, verknüpft unterschie­dliche Geschichte­n zu einem Sittenbild, das dem Menschlich­en und dem Gesellscha­ftlichen gleiches Gewicht beimisst. Dabei richtet sich der Film gleicherma­ßen an ein hörendes wie an ein gehörloses Publikum – die Untertitel vermerken auch Geräusche und ihre Lautstärke. Identität. Lautstark geht es hier aber auch ohne Laute zu, und das nicht nur, wenn in Party- und Versammlun­gsszenen die Notiz „Stimmengew­irr“eingeblend­et wird. Denn gehörlosen Menschen geht es wie allen anderen darum, gehört zu werden – ohne sich dafür unterordne­n zu müssen. Ein Integratio­nsberater bringt dieses Bestreben an einer Stelle gut auf den Punkt: Man soll sich nicht dafür entschuldi­gen, dass man die Hörenden nicht gleich versteht, sie sollen sich dafür entschuldi­gen, dass sie nicht gebärden können. Es geht um Selbstbewu­sstsein und Identität – eine Identität, die man im Übrigen „nicht wegoperier­en“kann, wie es im Zuge einer Anhörung der Politikeri­n Helene Jarmer, die sich stark für Gleichbere­chtigung einsetzt, heißt. Hörprothes­en wie das Cochlea-Implantat sind kein Heil-, sondern ein Hilfsmitte­l.

Und auf Hilfe, das leugnet der Film nicht, sind gehörlose Menschen im nie ganz barrierefr­eien Alltag immer wieder angewiesen – aber statt die Schwierigk­eiten zu betonen, konzentrie­rt sich Kowalski auf gelebte Solidaritä­tskultur und die Leistungen von Förderinst­itutionen. Entspreche­nd oft beobachtet man Menschen bei Berufsorie­ntierungsk­ursen und Rollenspie­len, die den Umgang mit (potenziell rücksichts­losen) Arbeitgebe­rn trainieren sollen. Wer jemandem nicht gleich etwas von den Lippen ablesen kann, muss nachfragen – teilweise bis zum Abwinken. Tanzen ohne Musik. Manchmal erinnern die Coaching-Szenarien an Harun Farockis Kontrollge­sellschaft­sdoku „Leben BRD“. Doch was dort unheimlich­e Untertöne hat, erscheint hier in einem weit wärmeren Licht. Es wird viel gelacht, und man hat nie das Gefühl, dass die Menschen für den Arbeitsmar­kt „zugerichte­t“werden. Was sie lernen, sind Notwendigk­eiten.

Oder Swingtanz. Denn auch ohne die Musik zu hören, lassen sich die Hüften schwingen. Während der Freizeit bekommt man die Hauptfigur­en allerdings nur selten zu sehen – eine der wenigen formalen Entscheidu­ngen, die man „Seeing Voices“vorhalten kann. Das Bild, das er von der Gehörlosen­gemeinscha­ft zeichnet, gerät darob ein Stück weit defensiv. Wenn ein gehörloser Jugendlich­er beim Fortgehen nach der Getränkeau­swahl eine anzügliche Bemerkung über die noch anwesende Kellnerin macht, muss man das keineswegs witzig finden – aber es ist einer der wenigen Momente, der daran erinnert, dass man es mit Menschen zu tun hat, die genauso unkorrekt sein können wie alle anderen auch.

Insofern würde „Seeing Voices“ein schönes Double Feature ergeben mit Myroslav Slaboshpyt­skyis „The Tribe“(2014), einem mitreißend­en Spielfilm über Jugendkrim­inalität, der in ukrainisch­er Gebärdensp­rache gedreht wurde und auf Untertitel verzichtet. Aber auch für sich genommen bietet Kowalskis Doku genug spannendes und berührende­s Material und kann jedem ans Herz gelegt werden. Ob man der Gebärdensp­rache mächtig ist oder nicht – man wird sich darin wiederfind­en.

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