Kafka geht wieder ins Kino
Verschollene Stummfilme sind aufgetaucht, der Leser kann viele endlich selbst sehen: Hanns Zischler hat seinen Klassiker »Kafka geht ins Kino« erweitert – überraschend, beglückend.
Käfer und anderes, oft ekelhaft anmutendes Getier kommen in Kafkas Kosmos ja reichlich vor. Dass sich der Autor aber in einem seiner Briefe zur Schlange macht, hat vielleicht damit zu tun, dass er zuvor ins Kino gegangen ist.
Es war eine Flucht ins Dunkel eines Kinematografensaals, wie man das damals nannte – in einer für den Autor peinigenden Zeit, dem Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er quälte sich mit der Entscheidung, ob er Felice Bauer heiraten sollte. In seinen Briefen an sie wand er sich werbend, warnend, verzweifelt. Und ganz passend schrieb er ihr im Juli 1913, kurz nach seinem (später zurückgezogenen) Heiratsantrag: „Winde ich mich nicht seit Monaten vor dir wie etwas Giftiges? Bin ich nicht bald hier, bald dort? Wird dir noch nicht elend bei meinem Anblick?“ Wedekinds Kinoerwachen. Reiner Zufall, dass Kafka wenige Tage davor den französischen Film „Le collier vivant“, auf Deutsch „Sklaven des Goldes“gesehen hat? Da ließ der Regisseur (in der Realität unter Aufsicht eines Schlangenbändigers) eine Frau von Würgeschlangen würgen.
Uns bringen diese frühen Stummfilmszenen zum Schmunzeln, mögen sie noch so ambitioniert gewesen sein; Kafka beeindruckte das neue Medium, wie so viele Zeitgenossen und auch andere Autoren, und zwar lang vor dem großen Kinogeher Peter Handke, lang auch vor Bertolt Brecht. Frank Wedekind und Peter Altenberg etwa waren glühende Fans, Kafkas Freund Max Brod schrieb über das Kinematografentheater, ihn mache „das leise Sausen des Apparats siedend vor Erwartung“. Mit ihm ging Kafka oft ins Kino, auch auf Reisen, etwa in Paris.
Und seit dem zum Klassiker der Kafka-Forschung gewordenen Buch „Kafka geht ins Kino“von 1996 konnte man in seiner Fantasie mit Kafka mitgehen. Dessen Autor kennen die meisten Menschen nicht vom Schreiben über Filme, sondern aus Filmen selbst, vor allem aus vielen „Tatort“- und „Derrick“-Folgen. Der deutsche Schauspieler Hanns Zischler hat aber auch eine Hauptrolle in Steven Spielbergs Drama „München“gespielt und mit anderen großen Regisseuren wie Wim Wenders, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol oder Istvan´ Szabo´ zusammengearbeitet. Der heute 69-jährige Zischler ist ein künstlerisches Multitalent, er ist auch Autor – neuerdings von
Hanns Zischler,
geb. 1947, wurde vor allem durch Wim Wenders’ „Im Lauf der Zeit“(1976) bekannt. Er gehört zu den meistbeschäftigten Schauspielern Deutschlands.
Als Schriftsteller
debütierte er 2014 mit der schönen Erzählung „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“. Romanen wie „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“–, Übersetzer, Regisseur, Dramaturg, Fotograf . . .
Und, als würde das nicht genügen, Detektiv auf Kafkas Spuren, seit 40 Jahren. Damals begann Zischler mit hartnäckiger Neugier zu erforschen, welche Filme Kafka wann sah, er studierte alte Wochenprogramme der Prager Tageszeitungen (die Kafka, wie er einmal schreibt, fast auswendig konnte), machte Filme ausfindig, stöberte unermüdlich nach Plakaten und Kritiken. Das Verschollene. Und da in den zwei Jahrzehnten seit „Kafka geht ins Kino“so viele Archive digitalisiert und Stummfilme restauriert wurden, hat Zischler wieder einiges gefunden, was Mitte der Neunziger noch als verschollen galt oder nicht zugänglich war – wie Filme des tschechischen Kinovorreiters Jan Krˇ´ızeneckˇy,´ die 1908 in Prag vor über tausend Zuschauern gezeigt wurden. Der neue Band „Kafka geht ins Kino“bietet aber noch mehr: Hier wird der Leser zum Zuschauer, kann mit beiliegender DVD mehrere Filme quasi mit Kafka gemeinsam ansehen.
„Die weiße Sklavin“etwa: An deren zwangsprostituierte Heldin erinnert Kafka jenes Fräulein Rehberger, das sich im nächtlichen München zu einer Autofahrt mit Kafka und Brod hinreißen lässt (sie wird dann auch eine Figur in einem gemeinsamen Romanprojekt). Wie schwer fassbar und traumartig die literarischen Verwandlungen von Kafkas Kinoeindrücken sind, merkt man, wenn man den Film sieht – keine Frau wird hier ins Auto gezwungen, wie man nach der Lektüre Kafkas glauben könnte; sie steigt ganz ungezwungen hinein, zwei Männer gehen vorbei – das war’s.
Zischler: Stummfilme sind »das meistunterschätzte Medium« des frühen 20. Jahrhunderts.
„Kafka geht ins Kino“, mit der neuen Ausgabe reicher denn je, ist eine Fundgrube für Kafka-Liebhaber, aber auch für Fans des Stummfilms, dieses laut Zischler „am meisten unterschätzten Mediums“für das frühe 20. Jahrhundert. Nicht so glamourös kommt das Genre hier daher wie im oscargekrönten Film „The Artist“, der 2011 vom Glanz der Stummfilmära Hollywoods erzählte. Es ist eine befremdende, nicht leicht zugängliche Welt. Na und? KafkaLeser sind das gewöhnt.