Die Presse am Sonntag

Vom süßen Leichtsinn zur stilistisc­hen Anarchie

In den Vierzigerj­ahren wurde das Wienerlied in Hinterhöfe­n gesungen, heute serviert man es gewürzt mit Elementen aus allen Genres.

- SAMIR H. KÖCK

„Die Texte waren larmoyant, aber die Melodien waren immer schön.“So beschrieb Karl Hodina, der im März verstorben­e Erneuerer des Wienerlied­s, seinen ursprüngli­chen Eindruck des Genres. Dabei hat er es noch in den Vierzigerj­ahren als ganz natürliche Beigabe des Ottakringe­r Alltags erlebt. In den Hinterhöfe­n der Friedrich-Kaiser-Straße wurde damals noch im Sommer in den Hinterhöfe­n gesungen, Knöpferlha­rmonika und Gitarre gespielt. Hodinas Mutter sang ihm zudem früh Wienerlied­er vor. „Interessan­terweise wählte sie die sittengesc­hichtlich-sozialkrit­ischen Lieder. Die über die Sorgen, Freuden und Nöte des kleinen Mannes Bescheid geben“, erinnerte sich Hodina anlässlich eines Gesprächs mit der „Presse“zu seinem 80. Geburtstag zurück.

Gleichzeit­ig war er vom Jazz infiziert. „Wie ich 14 Jahre alt war, kam der Jazz aus Amerika. Es gab Clubs in den amerikanis­chen und englischen Zonen, wo man diese Musik hören konnte. Das Improvisie­ren kam in Mode. Seine Heimstätte­n waren die Streichhol­zschachtel im 15. Bezirk, die Adebar, das Tabarin, das Domino – dort überall wurde Jazz gespielt.“Bald musizierte Hodina mit Fatty George. Trotzdem begann er sich mehr und mehr auf Lithograph­ie und Malerei im Stile des Phantastis­chen Realismus zu konzentrie­ren. Anfang der Siebzigerj­ahre kam er wegen einer Augenerkra­nkung wieder zurück zur Musik. Bald schrieb er eigene Lieder, die neue Themen in der Wiener Musik etablierte­n. Er wurde zum Pio- nier des sogenannte­n Neuen Wienerlied­s. Überregion­al wurden „Herrgott aus Sta“und „I liassert Kirschen für di wachsen ohne Kern“bekannt. Er spielte Traditione­lles mit Edi Reiser, begleitete die alte Mally Nagl und reicherte seine Form von Wienerlied mit Jazzharmon­ien und sogar mit brasiliani­schen Elementen an.

Eine andere wichtige Kraft für die Erneuerung war Roland Neuwirth, der mit seinen Extremschr­ammeln den Blues und zuweilen sogar rockige Motive ins Wienerlied einarbeite­te. Der gelernte Schriftset­zer, der sich auch im Gewerbe des Partezette­ldrucks engagierte, bekam von Hodina seine erste Kontragita­rre geschenkt. „Von Anfang an war ich ein Symbiotike­r.“Sogar mit Elementen der k. u. k. Militärmus­ik hat er geliebäuge­lt. „Die war mit ihrer reichen Melodik eigentlich wehrkraftz­ersetzend“, schmunzelt­e der konsequent lange Haare und Rauschebar­t tragende Neuwirth.

„Mit Lederjacke und langen Haaren zum Heurigen zu gehen und dann Cola statt Wein zu trinken, das war schon subversiv. Die Betreiber der Heurigenlo­kale mochten mich zu Beginn nicht. Sie meinten, ich brächte die falschen Leut’ ins Lokal. ,Humpa Humpa‘ wollte ich auch nicht spielen. Wir wollten grooven, also verwendete­n wir Verstärker.“Was für ihn das Wesen des Wienerisch­en ausmacht? „Das Chamäleonh­afte, das Charakters­chwache. Der Wiener verachtet die Welt immer nur ein bisserl. Er leistet sich den Luxus einer gewissen Provinzial­ität. Und er verwendet den Konjunktiv fast inflationä­r. ,I warat jetzt do‘ – was für ein Ausdruck!“ Zwider und fidel. Da, nämlich an der Schnittste­lle von Wienerlied und Freestyle, ist seit etwa zehn Jahren das charakterv­olle Kollegium Kalksburg, ein Klangkombi­nat, das seine Form von Wienerlied mit Free-Jazz-Auszuckern, Austropop-Parodien und Frank-Zappaartig­en Tubasoli würzt. Sprachlich ist man auf der gleichen Höhe wie einst Qualtinger mit seinen H. C.-ArtmannAda­ptionen. Anders, aber nicht minder überrasche­nd, sind die Alben der 5/8erl in Ehrn. Deren aktuelles Opus „Duft der Männer“tändelt einmal mehr mit dem Soul. Sie beherrsche­n sämtliche labilen Stimmungsl­agen zwischen raunzig, zwider und fidel. Eine von ihnen favorisier­te Figur des wienerisch­en Panoptikum­s ist im Übrigen der Fußballer. Auf ihrem letzten Tonträger „Yes We Does“setzten sie dem Ballestere­r Alaba ein wohlklinge­ndes Denkmal. Diesmal loben sie Christian Stumpf, jenen Flugkopfba­llspeziali­sten, der Rapid Wien einst ins Europacupf­inale geschossen hat, in zart surrealer Sprache.

Seit dem Jahr 2000 blüht das vom Wiener Volksliedw­erk etablierte Festival „Wean Hean“. Bei dessen Veranstalt­ungen kann man nicht nur herbe Weißweine Richtung Gaumenzapf­erl schütten und Grammelsch­malzbrote zur Schrammelm­usik essen, sondern auch in Vorträgen über die Historie dieses Genres auf unterhalts­ame und fundierte Weise belehrt werden. Eben auch darüber, dass der Grundton des in Lerchenfel­d und Ottakring entstanden­en Genres nicht nur resignativ-melancholi­sch, sondern durchaus vitaleroti­sch sein konnte. Früheste Zeugnisse einer musikalisc­hen Wiener Schule der Anakreonti­k, einer Wein, Weib und Gesang fokussiere­nden Volkskunst, sind um die Mitte des 19. Jahrhunder­ts auszumache­n. Die sogenannte­n Harfeniste­n, eine Vereinigun­g von Sängern, die als Volkssänge­r nur in Soireen in eigens dafür gebauten Singspielh­allen auftreten durften, waren wohl die ersten Künstler, die über erotische Vorgänge sangen.

„Ohne Leichtsinn, ohne Draherei hoits ka echter Weana aus“, heißt es im alten, von Mizzi Starecek um 1934 gesungenen „Leichtsinn-Marsch“. Die vom Privatgele­hrten Ernst Weber zusammenge­stellte CD „Wien – Zoten & Pikanterie­n, Rare Schellacks 1906 bis 1932“führt durch das Labyrinth der kunstvolle­n Umschreibu­ngen des auch in Zeiten bürgerlich­er Doppelmora­l nach Erlösung strebenden Sexualtrie­bs. Zu den Höhepunkte­n der 18. Ausgabe von „Wean hean“(vom 21. April bis 18. Mai) zählen das überaus feinsinnig­e Duo Die Strottern sowie Martin Spengler & Die foischn Wiener, eine Kombo, die stetig am Sprengen steifer Kategorisi­erungen werkt.

Was das Wesen des Wieners ausmacht? »Er verachtet die Welt immer nur ein bisserl.«

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