Culture Clash
FRONTNACHRICHTEN AUS DEM KULTURKAMPF
Vorzeichen. Den heute zur Wahl schreitenden Franzosen geht es so gut wie dem Rest Europas – aber sie sind viel unzufriedener. Nicht untypisch für das Mutterland des Populismus.
Populismus war in Frankreich immer schon etwas Eigenes. Das beginnt damit, dass die Franzosen von „classes populaires“redeten, wenn wir „Unterschicht“oder „Volksmassen“sagten. Und seit 1789 ist Frankreich auch nie wieder die politische Nervosität losgeworden – das Gefühl, in einer Übergangszeit zu leben und dabei persönlich zu kurz zu kommen, das den Nährboden für den Populismus bietet.
Frankreich ist so etwas wie das Mutterland des Populismus – und die Experimentierstation für seine Überwindung. Der 23. April bietet – wie wahrscheinlich jedes Datum – dafür Beispiele. So wurde am 23. April 1848 die Verfassunggebende Versammlung erstmals durch allgemeine und gleiche Wahlen vom Volk bestimmt. Die Mehrheit wählte überraschenderweise konservativ. Und am 23. April 1833 hatte sich der Student Fred´eric´ Ozanam in Paris mit der Gründung der wohltätigen Vinzenzgemeinschaften auf andere Art der „classes populaires“angenommen, deren Elend nach einer Choleraepidemie ihn bestürzt hatte. Seine karitative Gründung wurde zur heute größten katholischen Laienorganisation der Welt.
Das ist Frankreich. Wo nun die für viele Wähler albtraumhafte Stichwahlpaarung der rechten Populistin Marine Le Pen und des linken Populisten Jean-Luc Melenchon´ herauskommen könnte (dessen Wahlbündnis „Das nicht unterworfene Frankreich“heißt). Dafür liefert das Gallup-Institut ein Indiz: Die Franzosen seien nämlich in außerordentlich hohem Ausmaß – 43 Prozent der Bevölkerung – „unzufrieden und entmutigt“. Schlimmer sei das nur in Griechenland, Italien und Slowenien. Bei der letzten Wahl in Frankreich 2012 waren es erst 28 Prozent, dabei war damals die Arbeitslosigkeit heftiger und die Wirtschaft düsterer. Auch gibt es laut Gallup unter den Unzufriedenen und Entmutigten kaum mehr Sozialfälle als im Rest der Bevölkerung. Sie sind nicht ärmer, nicht in höherem Maß Modernisierungsverlierer – sie sind offenbar aus emotionalen Gründen frustrierter als andere.
Vielleicht ist das typisch für das Land der aufmarschbereiten Citoyens, der unentspannten Sozial- und Klassengefüge und des Kummers darüber, wie mittelmäßig die doch so große Nation über die Runden kommt. Und wenn das Rennen trotzdem Emmanuel Macron macht, der Karrierebeamte, Investmentbanker und EU-freundliche Minister der sozialistischen Regierung? Er vereint alles, wogegen Populisten wettern. Aber vielleicht erscheint er gerade dadurch als ein Mann der Mitte – und das ist etwas, was die aufgescheuchten Franzosen seit 1789 abwechselnd ersehnen und verachten. Mal sehen, was diesmal dran ist. Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.