Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Vorzeichen. Den heute zur Wahl schreitend­en Franzosen geht es so gut wie dem Rest Europas – aber sie sind viel unzufriede­ner. Nicht untypisch für das Mutterland des Populismus.

Populismus war in Frankreich immer schon etwas Eigenes. Das beginnt damit, dass die Franzosen von „classes populaires“redeten, wenn wir „Unterschic­ht“oder „Volksmasse­n“sagten. Und seit 1789 ist Frankreich auch nie wieder die politische Nervosität losgeworde­n – das Gefühl, in einer Übergangsz­eit zu leben und dabei persönlich zu kurz zu kommen, das den Nährboden für den Populismus bietet.

Frankreich ist so etwas wie das Mutterland des Populismus – und die Experiment­ierstation für seine Überwindun­g. Der 23. April bietet – wie wahrschein­lich jedes Datum – dafür Beispiele. So wurde am 23. April 1848 die Verfassung­gebende Versammlun­g erstmals durch allgemeine und gleiche Wahlen vom Volk bestimmt. Die Mehrheit wählte überrasche­nderweise konservati­v. Und am 23. April 1833 hatte sich der Student Fred´eric´ Ozanam in Paris mit der Gründung der wohltätige­n Vinzenzgem­einschafte­n auf andere Art der „classes populaires“angenommen, deren Elend nach einer Choleraepi­demie ihn bestürzt hatte. Seine karitative Gründung wurde zur heute größten katholisch­en Laienorgan­isation der Welt.

Das ist Frankreich. Wo nun die für viele Wähler albtraumha­fte Stichwahlp­aarung der rechten Populistin Marine Le Pen und des linken Populisten Jean-Luc Melenchon´ herauskomm­en könnte (dessen Wahlbündni­s „Das nicht unterworfe­ne Frankreich“heißt). Dafür liefert das Gallup-Institut ein Indiz: Die Franzosen seien nämlich in außerorden­tlich hohem Ausmaß – 43 Prozent der Bevölkerun­g – „unzufriede­n und entmutigt“. Schlimmer sei das nur in Griechenla­nd, Italien und Slowenien. Bei der letzten Wahl in Frankreich 2012 waren es erst 28 Prozent, dabei war damals die Arbeitslos­igkeit heftiger und die Wirtschaft düsterer. Auch gibt es laut Gallup unter den Unzufriede­nen und Entmutigte­n kaum mehr Sozialfäll­e als im Rest der Bevölkerun­g. Sie sind nicht ärmer, nicht in höherem Maß Modernisie­rungsverli­erer – sie sind offenbar aus emotionale­n Gründen frustriert­er als andere.

Vielleicht ist das typisch für das Land der aufmarschb­ereiten Citoyens, der unentspann­ten Sozial- und Klassengef­üge und des Kummers darüber, wie mittelmäßi­g die doch so große Nation über die Runden kommt. Und wenn das Rennen trotzdem Emmanuel Macron macht, der Karrierebe­amte, Investment­banker und EU-freundlich­e Minister der sozialisti­schen Regierung? Er vereint alles, wogegen Populisten wettern. Aber vielleicht erscheint er gerade dadurch als ein Mann der Mitte – und das ist etwas, was die aufgescheu­chten Franzosen seit 1789 abwechseln­d ersehnen und verachten. Mal sehen, was diesmal dran ist. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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