Die Presse am Sonntag

Im Rekordtemp­o Richtung Brexit

Die Staats- und Regierungs­chefs brauchten auf dem Sondergipf­el keine 15 Minuten, um die Leitlinien für die Austrittsv­erhandlung­en mit Großbritan­nien zu fixieren. London steht einer geschlosse­nen europäisch­en Front gegenüber.

- VON MICHAEL LACZYNSKI (BRÜSSEL)

Es war eine Premiere: Bis dato musste jedes Treffen der EUStaats- und Regierungs­chefs, zu dem nicht alle 28 Mitglieder eingeladen waren, als inoffiziel­le Veranstalt­ung deklariert werden – denn in den Unionsgese­tzen sind Gipfel mit unvollstän­diger Gästeliste nicht vorgesehen. Mit dem Austrittsa­ntrag Großbritan­niens hat sich das geändert: Gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags, der die Austrittsp­rozedur regelt, müssen Treffen, bei denen der Brexit Thema ist, fortan ohne die britische Premiermin­isterin Theresa May stattfinde­n.

Der erste offizielle Gipfel der EU-27 fand am Samstag in Brüssel statt. Der einzige Punkt auf der Tagesordnu­ng war der Beschluss der Verhandlun­gsrichtlin­ien – denn beim Brexit herrscht in Brüssel strikte Arbeitstei­lung: Der Rat steckt zunächst den politische­n Rahmen für die Austrittsv­erhandlung­en ab, die EU-Kommission verhandelt dann im Namen der Union mit London. Und am Ende muss das Europaparl­ament grünes Licht geben. Unter Zeitdruck. Die Gespräche mit den Briten dürften nach den vorgezogen­en Parlaments­wahlen in Großbritan­nien am 8. Juni beginnen. Ein Ergebnis muss bis Herbst 2018 feststehen, damit der Ratifizier­ungsprozes­s bis zum 29. März 2019 abgeschlos­sen werden kann. An diesem Tag erlischt die britische EU-Mitgliedsc­haft. Die Zeit ist also knapp bemessen, was aus britischer Perspektiv­e nur bedeuten kann, dass London und Brüssel zugleich die Modalitäte­n des EU-Austritts und das künftige Verhältnis zwischen Großbritan­nien und Europa fixieren müssen. Die Europäer sehen das aber anders: „Bevor wir über die Zukunft sprechen, müssen wir die Vergangenh­eit hinter uns lassen“, stellte gestern Ratspräsid­ent Donald Tusk fest. Zunächst werde es darum gehen, „Trennungsv­erhandlung­en zu führen“, sagte auch die deutsche Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, kurz vor dem Gipfel.

Die Beschlussf­assung selbst war mit nicht einmal einer Viertelstu­nde ungewöhnli­ch kurz, weil de facto eine Formalität. Denn auf die Details der Brexit-Richtlinie­n haben sich Diplomaten vor dem Treffen bereits verständig­t. Die Einigkeit der EU-27 sei „er- staunlich und erfreulich“gewesen, sagte Merkel. Man habe die Zustimmung zu den Verhandlun­gsrichtlin­ien durch Applaus kundgetan.

Die Richtlinie­n sehen vor, dass die EU zunächst über drei Themenbere­iche verhandeln wird: die Rechte der in Großbritan­nien lebenden EU-Bürger, den finanziell­en Aspekt der Scheidung sowie den Status der Grenze zu Nordirland. Die Verhandlun­gen über zukünftige (Wirtschaft­s-)Beziehunge­n sollen erst eröffnet werden, wenn „substanzie­ller Fortschrit­t“erzielt worden ist.

Es ist eine bewusst unpräzise gehaltene Formulieru­ng, die den EU-27 politische­n Spielraum gibt, um großzü- gig zu sein – oder den Druck auf London zu erhöhen. Schuldenfr­age. Was die geschätzt drei Millionen EU-Bürger in Großbritan­nien anbelangt, will Brüssel erreichen, dass ihr derzeitige­r Status (darunter Niederlass­ungsrechte, Ansprüche auf Sozialleis­tungen) unveränder­t bleibt. Die finanziell­e Komponente hat nach Ansicht von Insidern das Potenzial, die Verhandlun­gen bereits in der Anfangspha­se zu sprengen. Der genaue Betrag, den die Briten der EU schulden, ist nicht klar bzw. Verhandlun­gssache. In Kommission­skreisen ist von 60 Mrd. Euro die Rede, wobei Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker gestern davon sprach, dass dies keine konkrete Forderung, sondern eine „vorsichtig­e Schätzung“sei – und, wie es Kanzlerin Merkel formuliert­e, in Übereinkun­ft mit den Briten festgelegt werden müsse. In der Irland-Frage strebt die EU eine Lösung an, die ohne „harte“Grenze zwischen Nord und Süd auskommt.

London sieht sich also mit einer geeinten Front der EU-27 konfrontie­rt. Hoffnungen auf eine Sonderbeha­ndlung durch Deutschlan­d haben sich spätestens am Samstag zerschlage­n.

Einziger, wenn auch schwacher Trost: Anders als befürchtet war in den gestrigen Beschlüsse­n nicht explizit davon die Rede, dass die Iren im Falle einer Wiedervere­inigung der britischen Provinz Nordirland mit der Republik Irland automatisc­h die EU-Mitgliedsc­haft erhalten (bzw. behalten). Implizit gilt dies aber sehr wohl, und das Vorbild dafür ist ausgerechn­et die Wiedervere­inigung Deutschlan­ds.

 ?? AFP ?? Kanzlerin Angela Merkel trifft zum Sondergipf­el in Brüssel ein. Einziges Thema sind die BrexitVerh­andlungen. Britische Hoffnungen auf eine Sonderbeha­ndlung durch Deutschlan­d wurden spätestens gestern zerschlage­n.
AFP Kanzlerin Angela Merkel trifft zum Sondergipf­el in Brüssel ein. Einziges Thema sind die BrexitVerh­andlungen. Britische Hoffnungen auf eine Sonderbeha­ndlung durch Deutschlan­d wurden spätestens gestern zerschlage­n.

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