Die Presse am Sonntag

Die Illusion vom geeinten, roten Brasilien ist tot

Liberale Reformen treiben Brasiliane­r zum Protest. Aber er bleibt klein, weil man die korrupten Linken noch mehr hasst.

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Am Ende blieben nur Schall und Nebel. Hubschraub­erknattern, Sirenengeh­eul und Tränengass­chwaden hingen über dem Westen von Sao˜ Paulo. Konsequent hat die Polizei am Freitagabe­nd gewalttäti­ge Reste eines müden Protesttag­es beendet – und damit wohl auch die letzte Illusion von einem geeinten, roten Brasilien.

Als „mächtigste­n Generalstr­eik in der Geschichte Brasiliens“feierten Gewerkscha­ftsführer ihren Ausstand. Doch der überwiegen­de Teil der angeblich 40 Millionen Streikende­n wurde zum Fernbleibe­n vom Arbeitspla­tz gezwungen, weil Bahnen und Busse stehen blieben. Am Donnerstag­morgen hatte der Kongress eine einschneid­ende Reform des Arbeitsrec­hts beschlosse­n, und kommende Woche will der liberalkon­servative Präsident Michel Temer eine Rentenrefo­rm durch das Parlament bringen, die erstmals ein festes Eintrittsa­lter (65 Jahre) vorschreib­t. Die Gewerkscha­ften hatten darob den Freitag zum Großkampft­ag erklärt. Aus einer Million werden 400. Am Ende waren die Massen überschaub­ar. Im Zentrum der 20-Millionen-Metropole, vor dem Viaduto do Cha,´ hatte um fünf Uhr nachmittag­s eine Lehrergewe­rkschaft mobilisier­t. „Weg mit den Reformen, Temer raus!“ist auf den Asphalt der Brücke gemalt, von einem Lastwagen voller Lautsprech­er hält einer eine Brandrede gegen den „rechten Putschiste­n“im Präsidente­npalast und for- schaft leicht gebremst weiter.

Wo liegt der Unterschie­d? Wer den Parolen von Chavez´ folgte, verschenkt­e nur das Geld, subvention­ierte die Armen. Als die Rohstoff-Bonanza zu Ende war, finanziert­e man die versickern­den Wohltaten auf Pump. Die früher niedrigen Staatsschu­lden schossen in die Höhe, die Zinsen dafür ebenso. Direktinve­storen aus dem Ausland aber, die für den Aufbau der Infrastruk­tur und einer leistungsf­ähigen Produktion nötig wären, blockt man durch marktfeind­liche Interventi­onen ab – in Venezuela bis zur Enteignung. Der vierte Weg. In den ideologisc­h entspannte­n Staaten aber gelten Investoren nicht als imperialis­tische Ausbeuter und sind hochwillko­mmen. Öffentlich­e Budgets passen sich sinkenden Einnahmen an und bleiben solide. Diesen Weg wollen nun fast alle beschreite­n. Mit denselben Prioritäte­n: Bessere Bildung für die Massen, um die viel zu niedrige Produktivi­tät zu steigern. Und die „verletzlic­he“Gruppe zwischen Armen und Mittelschi­cht, die mit ihrem bescheiden­en Konsum die Konjunktur mitträgt, in Arbeit halten. So lassen sich Armut und Ungleichhe­it auf Dauer zurückdrän­gen, wenn auch nur langsam.

Es sind bescheiden­e Ziele ohne revolution­äres Pathos, aber mit Aussicht auf Erfolg – ein Pragmatism­us für das 21. Jahrhunder­t. Südamerika: BIP-pro-Kopf-Entwicklun­g Veränderun­g des Gini-Koeffizien­ten dert die Anwesenden auf, loszuziehe­n, hinauf zur Avenida Paulista, jener Hochhaussc­hneise, die seit Jahren Schauplatz von Massenprot­esten ist und wo vor einem Jahr eine Million Bürger die Absetzung der Präsidenti­n Dilma Rousseff verlangt hatten.

Als sich der Zug in Bewegung setzt, vorbei am Teatro Municipal, Brasiliens bedeutends­tem Opernhaus, sind es nicht mehr als drei-, vierhunder­t Personen. Davor, dahinter und darüber Polizei, in rot blinkenden Streifenwa­gen und einem Hubschraub­er in der Luft. An der Prac¸a da Repu´blica steht Zeze´ hinter der Theke seiner Saftbar und kommentier­t den Umzug kurz und heftig: „Mafiosi und Penner.“Über der Theke hängen Ananas, Papayas und Bananen, dahinter stehen 175 Zentimeter aufgestaut­e Wut: „14 Jahre lang haben sich die Gewerkscha­ften hier bedient mit ihrem korrupten Lula an der Spitze. Nur gut, dass dieser Spuk ein Ende hat.“

Weil viele so denken, hat die Arbeiterpa­rtei vorigen Oktober in Südamerika­s größter Metropole haushoch verloren. Nun regiert der Konservati­ve Joao˜ Doria, der Millionen mit Medien und Werbung machte und der nicht zufällig heute in die Politik einsteigt, da Brasilien unverbrauc­hte Leader braucht.

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine neue Ungeheuerl­ichkeit in die Medien kommt. Betroffen sind Parteien aller Lager, Konservati­ve, Liberale, Sozialdemo­kraten. Aber am schlimmste­n trifft es die Linken und deren Anführer Lula. Dieser streitet alles ab. Am 10. Mai muss er erstmals vor den Richter Sergio´ Moro, den Leiter der Ermittlung im Korruption­sfall um den Ölkonzern Petrobras.

»14 Jahre lang haben sich die Gewerkscha­ften bedient. Gut, dass der Spuk ein Ende hat.«

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