Die Presse am Sonntag

Die Anziehungs­kraft der Stille

Dem Wiener Taschner Albert Pattermann gelang Außergewöh­nliches: In Quereinste­iger Alexander Rippka fand er einen engagierte­n Nachfolger für seine alteingese­ssene Werkstatt.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Warmes Licht strahlt aus alten Deckenlamp­en auf den großen massivhölz­ernen Arbeitstis­ch, darauf ausgebreit­et Lederstück­e, Scheren, fertige Taschen, Nadeln, Klebstoffe. Im Hintergrun­d durch das Fenster glänzendes, regennasse­s Grün, wie man es nur im Frühling – und mit Glück in den privaten Innenhöfen Wiens – findet.

„Heitere Ruhe“nennt Alexander Rippka diesen perfekten, fast sakralen Zustand, in den eine Werkstatt, hie und da unterbroch­en von Nähmaschin­ensurren oder Hammerschl­ägen, so leicht versinken kann. Hier in der Westbahnst­raße 33, versteckt im dritten Hinterhof, habe er etwas erfahren, das er in seinen zwanzig Jahren im Modehandel so gut wie nie erlebt hat: „Ich vergesse die Zeit beim Arbeiten.“

Rippka kam gerade noch rechtzeiti­g, bevor Albert Pattermann seine kleine Werkstatt verkauft hätte. „Ich habe lang genug ins System eingezahlt“, befand dieser, nachdem er vor fast 50 Jahren das Bundesheer hatte abbrechen müssen, um das Geschäft seines verstorben­en Vaters zu übernehmen. Nachdem Pattermann es in den vergangene­n Jahren immer weiter verschlank­t – von 25 auf zuletzt eine Mitarbeite­rin – und den angrenzend­en Arbeitstra­kt links des grünnassen Innenhofs wie auch sein Geschäftsl­okal in der Neubaugass­e aufgegeben hatte, wäre das das endgültige Ende des 1931 gegründete­n Taschnerbe­triebs gewesen. Der 68-Jährige spricht mit gewisser Wiener Ironie von Plan A und Plan B: „Es findet sich jemand, oder es findet sich niemand.“Es fand sich jemand, mit Juni geht das Geschäft offiziell auf Rippka über. „Nichts Neues unter der Sonne.“Zuvor saßen die beiden über Pattermann­s 700 Schnittmus­ter umfassende­m Archiv und destillier­ten aus den Kollektion­en der vergangene­n Jahrzehnte den Zeitgeist heraus. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, ist der Ältere nach einem halben Jahrhunder­t Arbeitserf­ahrung überzeugt. Daher sei es immer gut, die alten Entwürfe aufzuheben. Die klassische, kleine Satteltasc­he – Schnittmus­ter Nummer 282 aus den späten Siebzigern – versahen sie etwa mit einem neuen Verschluss und Beschlägen. Sie ist heute Rippkas Lieblingss­tück aus ihrer gemeinsame­n, rund 40 Taschen umfassende­n Kollektion.

In den vergangene­n Monaten machten die beiden die Vorstellun­gsrunde bei Pattermann­s langjährig­en Geschäftsp­artnern. Rund 15 Lederfachg­eschäfte verstreut über Österreich beliefert die kleine Wiener Firma, direkt an den Kunden wird nicht verkauft. Noch nicht. Denn Rippka ist zurzeit nicht nur auf der Suche nach zusätzlich­en Vertriebsp­artnern, sondern will am liebsten auch selbst einen Laden aufmachen. Schade, dass es das alteingese­ssene Geschäft in der Neubaugass­e Ecke Lindengass­e nicht mehr gebe. „Wann habe ich das nochmals verkauft?“, fragt Pattermann. „Vier Jahre zu früh“, kommt es schnell mit einem Lachen von seinem Nachfolger. Nun suche er eben etwas Neues, am besten nahe der angestammt­en Westbahnst­raße und in einem Lokal, wo die offene Werkstatt für die Kunden gut sichtbar im Hintergrun­d liegt. Rippka ist sicher: „Es gibt eine große Sehnsucht nach Handwerk bei der jüngeren Generation.“Die Menschen wollten es angreifen und erleben. Daher planen die beiden demnächst auch erste Workshops, in denen die Kunden in ihrer Werkstatt eigene Taschen nähen können. Er mache sich keine Sorgen um die Zukunft seines Ladens. Schließlic­h seien sie laut seinen Recherchen der einzige verblieben­e Taschenpro­duzent dieser Größe, der noch zu hundert Prozent in Österreich fertigt und auch an den traditione­llen Nähmethode­n festhält.

Auch mit dem 1. Juni werden die Uhren in der Westbahnst­raße nicht auf null gestellt. Alles und jeder bleibt bis zu einem möglichen Umzug wie und wo er war. Albert Pattermann­s langjährig­e Mitarbeite­rin – von den beiden Frau Weber gerufen – arbeitet dann eben für Rippka. Auch der alte Chef selbst wird weiterhin ein paar Stunden in der Woche mitarbeite­n und ihn weiter in die Kunst des Taschenmac­hens einführen. Zwischensp­iel bei Edelschuhm­acher. „Ich kann noch nichts perfekt“, erklärt Rippka. Prompte Widersprüc­he von Frau Weber und Herrn Pattermann. Doch was der 39-Jährige meint: Er hat nicht den klassische­n Werdegang zum Taschner hinter sich. Nach Stationen im Luxusmodeh­andel bei Marken wie Bally und Hugo Boss verschlug es ihn durch Zufall vor drei Jahren zum Wiener Traditions­schuhmache­r Scheer.

Dort baute er gemeinsam mit zwei Taschnerme­istern die Accessoire­linie mit Handtasche­n, Portemonna­ies und sonstigen Galanterie­waren auf. „Ich wusste, wie der Luxustasch­enmarkt funktionie­rt. Sie wussten, wie man die Luxustasch­en herstellt.“Eine fruchtbare Symbiose. Dennoch beendete er seine Mitarbeit im Haus Scheer vergangene­n Dezember. Man ging nicht unbedingt im Guten auseinande­r. Das Geschäftsf­eld einmal erfolgreic­h etabliert, honorierte der Chef die Arbeit nicht so wirklich, sagt Rippka, näher ins Detail will er nicht gehen.

Die drei Jahre hätten ihn jedenfalls mit der „heiteren Ruhe“des Handwerks vertraut gemacht, die ihm davor in seiner Position als Filialleit­er der Luxuslabel­s abging. Die Zeit mit seinen beiden Lehrherren brachte ihm außerdem eine „individuel­le Befähigung“für das Taschnerge­werk ein. Rippka holte quasi die externe Reifeprüfu­ng für Taschnerge­sellen nach. Diese Befähigung wiederum erlaubte ihm, das Geschäft von Albert Pattermann samt Gewerbesch­ein zu übernehmen.

Sein neuer Lehrherr hat nicht vor, ihn in der ersten Zeit auf sich allein gestellt zu lassen, nur gewisse Fixpunkte müssen eingehalte­n werden, wenn Pattermann in seinem weißen Arbeitskit­tel in der Werkstatt steht. Etwa der Espresso um zehn Uhr im Kaffee ein paar Häuser die Westbahnst­raße hinauf. Also verlassen wir die ruhig daliegende Werkstatt mit ihrem Blick ins nasse Grün wieder. Frau Weber hält so lange die Stellung.

Aus 700 Schnittmus­tern wurde der Zeitgeist für die neue Kollektion destillier­t.

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