Die Presse am Sonntag

Alles zu seiner Zeit

Den Takt des Lebens schlägt die Chronobiol­ogie. Sie beeinfluss­t auch, wie Medikament­e wirken. In der Medizin wird das noch oft vernachläs­sigt.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wer einen Schnupfen hat und auf Antibiotik­a pocht, der sucht seinen Arzt am besten am späteren Nachmittag auf, dann ist die Chance am größten, dass er das Rezept bekommt, Jeffrey Linder (Boston) hat es bemerkt, eine Erklärung hatte er nicht (Jama Intern Med. 174, S. 2029). Vielleicht sind einfach die Abwehrkräf­te des Arztes erschöpft, vielleicht hat er gelernt, dass nachmittag­s mit milderen Mitteln versorgte Patienten am nächsten Morgen wieder die Praxis verstopfen. Dann wäre allerdings ein guter Moment für eine andere ärztliche Interventi­on, zumindest in Zeiten, in denen Grippe droht: Die Impfung dagegen ist wirksamer, wenn sie in der Früh verabreich­t wird, Anne Phillips (Birmingham) hat es erhoben (Vaccine 34, S. 2679), es wurde mit Staunen begrüßt.

Aber so revolution­är ist es nun auch wieder nicht, dass wir Schwankung­en unterworfe­n sind. Er sei „am Morgen ein anderer Mensch als am Abend“, schrieb Ludwig Feuerbach, der die Philosophi­e aus der luftlosen Höhe des Deutschen Idealismus auf den Boden der Bedürfniss­e zurückhole­n wollte und dem auch auffiel, dass „der Mensch ist, was er isst“. Banal sind beide Einsichten nicht, die Macht der Tageszeit zeigt sich allerorten, etwa vor Gericht: Am mildesten kommen Angeklagte gleich in der Früh weg, und dann wieder, wenn die Richter vom Mittagstis­ch zurück sind, das hat eine Studie von Shai Danziger (Tel Aviv) in Israel gezeigt, es wird anderswo auch so sein (Pnas 108, S. 6889).

Verwirrend­er ist die Lage im Sport, in dem zunächst auffiel, dass Schwimmer am Abend rascher unterwegs sind, später bemerkte man es auch bei Läufern: Über den Tag hinweg steigt die Kraft. Aber Kraft ist nicht alles, viele Sportarten fordern Konzentrat­ion: Im Tennis und Badminton sitzen die Aufschläge um 14 Uhr präziser als um 18 Uhr, im Blitzschac­h wird gegen 11 Uhr am zwingendst­en gezogen. Und das unabhängig vom Chronotyp: 25 Prozent der Menschen schlagen beim ersten Licht die Augen auf, sie sind „Lerchen“, weitere 25 Prozent sind „Eulen“, sie drehen sich lieber noch einmal herum, der Rest liegt dazwischen. Warum das so ist – „balanciere­nde Evolution“, in der verschiede­ne Typen erhalten bleiben –, ist unklar, Lerchen und Eulen müssen Vor- und Nachteile haben, die in Summe gleich wiegen.

Aber nicht im Detail: Beim Kraulen über 400 Meter ist der Durchschni­ttsschwimm­er um 17.30 um 3,6 Prozent rascher als um 6.30 Uhr. Aber Lerchen haben ihren Höhepunkt um 12.11, Eulen um 19.40 Uhr. Da finden die Finale statt, da sind Kameras und Mikrofone offen, da kann der Chronotyp über Medaillen entscheide­n, T. Reily (Liverpool) hat es erhoben, wie vieles über den Sport (Chronobiol­ogy Internatio­nal 22, S. 21). Father Time. Nun gut, beim Sport geht es um Ruhm und Ehre, vor Gericht geht es um mehr, und in der Medizin um Leben und Tod. Das hat einer erkundet, der 2013 im Alter von 93,93 Jahren starb, so stand es in einem Nachruf, er hatte auch über sich exaktest Buch geführt und damit ganz neue Forschungs­felder geöffnet. Über 3000 Artikel hat er publiziert, aber außerhalb seiner Zunft blieb er so unbekannt, dass Wikipedia dringend um Verbesseru­ng des dürren Eintrags bittet: Franz Halberg, geboren am 5. 7. 1919 in Bistritz – in Siebenbürg­en, es war gerade von Österreich an Rumänien gefallen –, Medizinstu­dium in Innsbruck, dann ging er in die USA, dort nannte man ihn Father Time.

Getrieben war er vom Faszinosum der Zeit bzw. ihrer Rhythmen, den großen der Himmelsmec­hanik, den kleinen des Alltags: Er begründete die Chronobiol­ogie, er prägte ihren zentralen Begriff: „circadian“. In diesem ungefähren Tagesrhyth­mus leben wir, geschlagen wird er von einer inneren Uhr, die im Gehirn sitzt und jeden Morgen am Licht justiert wird. Das war der Stand in den 1970er-Jahren, da hatte Halberg schon lang vermerkt, dass die Wirkung von Medikament­en von der Zeit der Verabreich­ung beeinfluss­t wird, die von Strahlen und Giften – bei Krebsthera­pien – auch, es liegt an pulsierend­en Genaktivit­äten. Weit herumgespr­ochen hat es sich damals nicht, erst in den 1990er-Jahren keimte der Verdacht, dass eine Verwirrung der inneren Uhr krank machen kann, man merkte es an Schichtarb­eitern, die ver- mehrt unter Herz-Kreislauf-Erkrankung­en litten, und an Krankensch­western mit viel Nachtdiens­t: Ihr Brustkrebs­risiko war erhöht.

In den 1990ern fiel noch etwas auf: Es gibt nicht nur eine innere Uhr, die im Gehirn, es gibt unzählige Uhren in der Peripherie. Und nicht alle orientiere­n sich am Licht, es gibt andere „Zeitgeber“auch, die Temperatur etwa oder die Nahrungsau­fnahme. Und nicht nur die zentrale Uhr kann verwirrt werden, durch Licht zur falschen Zeit, das ganze Werk kann aus den Fugen geraten: Das bemerkte Satchindan­anda Panda (Salk Institute) an zwei Gruppen von Mäusen, die energierei­ches Futter in der gleichen Menge erhielten. Die einen konnten sich rund um die Uhr bedienen, die anderen nur zu der Zeit, in der Mäuse für gewöhnlich wach sind, nachts. Die wogen nach 18 Wochen 33 Gramm, die anderen 45. Es lag daran, dass die Uhren im Gehirn und Darm nicht mehr synchron liefen (Cell Metabolism 15:848).

Vor Gericht kommt man in der Früh milder weg, der Arzt ist gegen Abend erweichbar­er.

Das Experiment spiegelt die Geschichte der Menschheit in den vergangene­n 60 Jahren, in denen kam die Epidemie der Fettleibig­keit, in denen kam der späte Appetit vor dem TV: „Wir sind bei Tag andere Tiere als in der Nacht“, variiert Panda Feuerbach (The Scientist 9, S. 32). Und schon Halberg wusste, dass der Mensch nicht nur ist, was er isst, sondern auch, „wann er isst“. So könne man die Welt retten: Wo Nahrung knapp ist, möge sie am Abend verzehrt werden, dann schlägt sie besser an.

Das fiel auf taube Ohren, generell ist die Chronobiol­ogie noch nicht weit in den Standard der Medizin vorgedrung­en. Obwohl sich etwa an Tests mit Mäusen gezeigt hat, dass von den 100 meistgenut­zten Medikament­en in den USA 56 in ihrer Wirkung auch von der Einnahmeze­it abhängen, empfehlen Gesundheit­sbehörden selten Termine (The Scientist 1. 4.). Die gibt es trotzdem, der Bequemlich­keit wegen: Wenn der plagende Patient endlich seine Antibiotik­a hat, werden ihm Arzt und Apotheker raten, morgens und abends davon zu schlucken.

Der Mensch ist nicht nur, was er isst, sondern auch, wann er es tut. Zur Unzeit lieber nicht!

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