Die Presse am Sonntag

Zwei Kinder gegen den General

In ihrem neuen, einfühlsam­en Roman, »Stumme Schwäne«, schildert Ece Temelkuran die Tage vor dem Putsch 1980. Eine wüste Zeit, die viel über die heutige Türkei preisgibt.

- VON DUYGU ÖZKAN

Als der kleine Ali und sein Vater in Ankara auf den Bus warten, holt der Vater die aktuelle Ausgabe der „Cumhuriyet“hervor und beginnt, einzelne Absätze aus den Artikeln vorzulesen. Da geht es darum, dass Turgut Özal, Berater des Premiers, in Paris um IWF-Kredite ansuchen wolle. Es geht darum, dass die Behörden Katzen gegen die Mäuseplage in den Zügen einzusetze­n gedenken, und alle Menschen, die sich unsicher fühlen, sich bewaffnen dürfen sollen. „Innerhalb der letzten zwölf Monate“, steht in einem anderen Artikel, „wurden 395 Studenten und Dozenten getötet.“Sein Vorlesen würzt Alis Vater mit ironischen Kommentare­n, und er beendet es mit dem Satz: „Die haben doch alle den Verstand verloren.“

Es ist Sommer, und es ist das Jahr 1980. Rechte und linke Gruppen liefern sich erbitterte Straßensch­lachten, die Polizei ist nicht zimperlich, in den Gefängniss­en fließt Blut. Ein Putsch steht bevor, und die türkische Bevölkerun­g kann ihn förmlich riechen. Alis Eltern sind Aktivisten im linken Widerstand, im Keller ihrer ärmlichen Herberge verstecken sie Waffen, selbst dann, als ihre Gegner ihr behelfsmäß­ig errichtete­s Haus niederbren­nen.

Ali ist introverti­ert. Er sieht alles, denkt viel, er versteht die Zusammenhä­nge, soweit es das kindliche Gemüt zulässt. Als seine Mutter als Haushaltsk­raft bei der gut situierten, ebenfalls gegen den Staat rebelliere­nden Familie Bakar anheuert, freundet sich der Bub mit der gleichaltr­igen Tochter der Familie, Ayse,¸ an. Die Köpfe, die Fantasie der Kinder, sind das Zentrum in Ece Temelkuran­s neuem Roman, „Stumme Schwäne“, ein wunderbar einfühlsam­es Buch, das mithilfe seiner fiktiven Protagonis­ten mehr über den derzeitige­n Zustand der Türkei preisgibt als manches neue Sachbuch. Wörter beerdigen. Denn viel von den verrückt wirkenden Dingen, die heute in der Türkei passieren, haben ihren Ursprung in und vor den Putschtage­n von 1980, wie Temelkuran in Interviews beschreibt. Die giftige und unterdrück­erische Atmosphäre hat ein stark verwundete­s Volk zurückgela­ssen, verunsiche­rt und in Teilen seiner Sprache beraubt. So hat das Militär „potenziell Ece Temelkuran „Stumme Schwäne“übersetzt von Johannes Neuner Hoffmann und Campe 384 Seiten 22,70 Euro gefährlich­e“Ausdrücke einfach aus der Öffentlich­keit verbannt. Temelkuran schildert es in ihrem Roman anhand eines Paares, das beim staatliche­n Rundfunk arbeitet und mit Ayses¸ Eltern befreundet ist. Erneut habe man drei weitere Wörter beerdigt, erzählen sie so nebenbei, nämlich „relativ“, „inspiziere­n“– und „kritisch“.

Seit Gründung der türkischen Republik beherbergt das Land eine Gesellscha­ft, die stets – und oft gewaltsam – von oben geformt wurde. Die Entwicklun­g eines gesunden Geschichts­bewusstsei­ns und das kollektiv-kritische Denken sind gehemmt worden. Das will die kluge und feinfühlig­e Autorin in ihren Büchern erklären, und in ihrem neuen Roman gelingt ihr das abermals.

In „Stumme Schwäne“schildert Temelkuran den Wahnsinn der Sommermona­te vor dem Putsch, und sie schildert ihn streckenwe­ise über die Wahrnehmun­g von Ali und Ayse.¸ Die Kinder versuchen, den rasanten Wandel der Tage – und damit auch die Veränderun­g bei ihren Eltern – zu begrei- fen. Es geht um etwas Gewaltiges, so weit verstehen sie die Begebenhei­ten, und sie warten sehnsüchti­g auf diese „Resolution“, von der die Erwachsene­n immer sprechen, sie sind gegen die „Dicktatur“und gegen den „Opatunismu­s“, das kann doch nichts Gutes sein. Die Flügel. Ali und Ayse¸ planen unterdesse­n ihre eigene „Resolution“: Der Generalsta­bschef will die Flügel der Schwäne im Schwanenpa­rk von Ankara stutzen lassen, damit sie nicht mehr fliegen können. Aus Rache, denn die Schwäne wollte der General in seinen höchsteige­nen Park umsiedeln, aber sie sind ihm davongeflo­gen. Temelkuran­s Recherchen zufolge hat sich die Geschichte tatsächlic­h zugetragen: General Kenan Evren, der das Land ab 1980 mit eiserner Hand führte, verstörte selbst die Tierwelt. Die Schwäne, sie stehen symbolisch für die freiheitsl­iebenden und demokratis­ch gesinnten Bürger, die in der Republikge­schichte viel zu oft damit rechnen mussten, auf einmal keine Flügel mehr zu haben.

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Muhsin Akgün Die türkische Schriftste­llerin und Journalist­in Ece Temelkuran.
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