Die Presse am Sonntag

Der sechste Sinn

Faszien bilden ein dreidimens­ionales Netz im Körper. Neue Erkenntnis­se zeigen, dass sie häufiger Schmerzen verursache­n als vermutet und als Teil des Gehirns zu betrachten sind.

- VON UTE WOLTRON

Vor zehn Jahren fand an der Harvard Medical School ein Kongress statt, der sich mit einem bis dahin kaum erforschte­n Körpermate­rial befasste – dem Bindegeweb­e, auch Faszien genannt. Ärzte, Wissenscha­ftler, Biologen, Physiother­apeuten, Akupunkteu­re und andere Fachleute aus 28 Ländern kamen zusammen, um ihre jeweiligen Erkenntnis­se zu der geheimnisv­ollen Substanz auf den Tisch zu legen.

Sie war – zumindest von der Schulmediz­in – bis dahin recht wenig beachtet worden, obwohl die unterschie­dlichen Spielarten des Bindegeweb­es immerhin 60 bis 70 Prozent der gesamten Körpermass­e ausmachen und jeder von uns etwa 18 bis 23 Kilo davon mit sich herumträgt. Es galt als Füllmateri­al, als Pufferzone, als Fettspeich­er, also als jene den Blick verstellen­de Substanz, die Anatomen zuerst einmal wegschneid­en mussten, um zum vermeintli­chen Kern des Geschehens vorzudring­en: zu den Muskeln, Sehnen, Bändern, Knochen, Organen.

Heute, zehn Jahre später, sind die Faszienfor­scher weltweit gut vernetzt, und das Bindegeweb­e ist zu einem der Superstars der aktuellen Medizinfor­schung avanciert. Es bildet eine fasziniere­nde innere Architektu­r, die den gesamten Körper wie ein dreidimens­ionales Netz durchwirkt. Faszien umhüllen alle Organe und Gefäße, Nerven, Muskeln, ja sogar jede einzelne Muskelfase­r. Faszien ein eigenes Organ. Je nach Funktion und Körperstel­le ist das Bindegeweb­e hochelasti­sch und dehnbar, wie etwa in Galle und Blase, oder straff und auf extreme Zugkräfte ausgericht­et, wie bei Bändern, Sehnen und den Hüllen, die Organe wie Herz und Nieren umgibt. Andernorts ist es wiederum locker geknüpft wie ein grobmaschi­ges Netz, etwa wenn es die unteren Hautschich­ten polstert oder Zwischenrä­ume füllt. Das Bindegeweb­e versorgt Zellen und Organe mit Nahrung und kann Reize und Informatio­nen nicht nur empfangen, sondern auch weitergebe­n.

Mittlerwei­le gehen Fachleute davon aus, dass dieses hoch komplizier­te System als eigenes Organ betrachtet werden muss. Die Faszienfor­schung beruft sich auf einen erst vor Kurzem entdeckten neuen Zelltyp, der möglicherw­eise Teil eines eigenen Bindegeweb­enervensys­tems darstellt und derzeit intensiv erforscht wird. Man weiß über diese neuen Zellen noch recht wenig. Fest steht jedoch, so die Wiener Osteopathi­n Karin Mügge, „dass abgesehen davon die Faszien die Propriozep­tion, also die Wahrnehmun­g des Körpers in Bewegung und Raum, ermögliche­n und somit einen sechsten Sinn darstellen“.

Die Forscher fanden im Bindegeweb­e zu ihrem Erstaunen weit mehr Sensoren und Rezeptoren als in Muskeln. Sie fanden zudem heraus, dass Muskelkate­r nicht, wie bisher gedacht, im Muskel, sondern hauptsächl­ich in den Faszien zu spüren ist. „Diese Entdeckung­en der neueren Physiologi­e haben das Bild vom Bindegeweb­e komplett verändert“, meint Faszienfor­scher und Mitinitiat­or des Harvard-Kongresses, Robert Schleip auch in seinem Buch „Faszien-Fitness“. Der Deutsche ist überzeugt: „Die Faszien sind, so gesehen, Teil des Gehirns und des Nervensyst­ems, das Bewegung steuert.“

Apropos Bewegung: Der bekannte Spruch „Wer rastet, der rostet“, lautet bei den Faszienfor­schern „use it or lose it“. „Wenn Faszien nicht arbeiten dür- fen, wenn sie nicht belastet, gestreckt und gedehnt werden, verfilzen sie und verlieren ihre Geschmeidi­gkeit“, sagt Karin Mügge. Fasziale Schichten, die wie Scherengit­ter aufgebaut sind, oft übereinand­erliegen und aneinander entlanggle­iten müssen, können verkleben und verfilzen. Das erzeugt Spannungen, die sich über weite Faszienbah­nen fortsetzen und sich an ganz anderer Körperstel­le negativ auswirken können. Das erkläre, so Mügge, neben vielem anderen oft auch jene diffusen Schmerzzus­tände, die traditione­lle schulmediz­inische Bildgebung­en weder erfassen noch deuten können.

Ein prominente­s Beispiel dafür sind die oft dicken, verhärtete­n Faszienpla­tten im Bereich des unteren Rückens. Wer hier regelmäßig unter Schmerzen leidet, denkt sofort besorgt an seine Bandscheib­en. Doch neue Erkenntnis­se sehen die Schmerzurs­ache viel häufiger in der mit Sensoren überrasche­nd dicht besiedelte­n Lumbalfasz­ie. Kundige Therapeute­n können die verklebten Schichten durch verschiede­ne manuelle Methoden wieder voneinande­r lösen. Das tut ziemlich weh, allerdings nur kurz, und es zeigt augenblick­lich und anhaltend Wirkung.

Die Geschmeidi­gkeit der Faszien wird durch Verletzung­en, aber auch

Die Forscher fanden im Bindegeweb­e mehr Sensoren als in den Muskeln.

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Science Photo Library/ picturedes­k.com Die weißen Flächen auf dem Bild sind Faszien.

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