Pekings »große Säuberung«
Hinter einem riesigen Abrissprogramm, das Peking verändern und wohnlicher machen soll, steckt die Verdrängung von Millionen Arbeitern vom Land, die die Stadt mitaufgebaut haben.
Noch am Abend zuvor flanierten wie fast an jedem Abend Zehntausende durch die Gassen des beliebten Pekinger Ausgehviertels Sanlitun. Jeder, der Peking besucht hat, kennt das Viertel. Der beliebte Mojito-Stand hatte am Wochenende bei milden Frühlingsgraden ebenso Hochbetrieb wie das „Lugas“, ein Lokal, das sowohl MangoLassi, mexikanische Tortillas als auch vietnamesische Nudelsuppe auftischt.
Doch am nächsten Tag ist die gesamte Straße dort ein Trümmerhaufen. Nagelsalons, die vor allem unter Ausländern beliebten DVD-Geschäfte, die Schnickschnack-Läden und sämtliche Bars, Restaurants und Clubs – sie sind allesamt dem Erdboden gleichgemacht. Anfang der Woche rückten nämlich Bagger an und rissen sämtliche Vorbauten der Wohnblöcke ab, in denen die Geschäfte und Lokale waren. Polizisten bewachten die Arbeiten, um wütende Ladenbesitzer abzuhalten. Nun versinkt das einstige Vergnügungsviertel in einer Staubwolke. Zehntausende Geschäfte zerstört. Sanlitun ist nicht das einzige Viertel, das von der Zerstörung betroffen ist. Genaue Zahlen gibt die Stadtverwaltung nicht bekannt, doch Schätzungen zufolge sind seit Anfang März zehntausende (!) Geschäfte in der Stadt Baggern und Bulldozern zum Opfer gefallen. Boutiquen, Weinläden und Restaurants ebenso wie die tausenden kleinen Imbissstände, Obstläden und Lebensmittelgeschäfte.
Die Pekinger sind überrascht und wütend zugleich. „Ich bin viel in diese kleinen Läden gegangen, um Alltagsgegenstände zu besorgen“, erzählt die 42-jährige Wang Mei. Direkt vor ihrem Wohnblock im Stadtbezirk Chaoyang habe es ein Lebensmittelgeschäft gegeben, einen Massagesalon und einen Friseur. Sämtliche Eingänge sind nun zugemauert. Der Friseur musste schließen. Zum Massagesalon gelangt man noch über einen Hintereingang. Den Kiosk um die Ecke gibt es noch. Um dort einen Kanister Wasser zu besorgen, muss Wang nun auf eine Metallleiter steigen. Dort werden ihr dann die Waren durchs Fenster gereicht. Bauverfahren? Von wegen! So wie in den meisten Stadtteilen erschienen die Bauarbeiter auch in Sanlitun ohne Vorwarnung und ohne vorhergehendes Bauverfahren. Ein paar Tage vorher seien lediglich Arbeiter aufgetaucht und türmten Ziegel auf, berichtet Li Dong, dessen Lokal ebenfalls abgerissen wurde. „Sie sollten die Schaufenster zumauern, damit die Räume wieder als reguläre Wohnungen genutzt werden können, hieß es. Absurd! Dabei hatte Premier Li Keqiang doch versprochen, Kleinunternehmer wie uns zu fördern.“
Offiziell begründet die Stadtverwaltung den Massenabriss damit, dass diese Geschäfte allesamt illegal seien. Eine gewerbliche Nutzung der Erdgeschosswohnungen sei nie vorgesehen gewesen. Das stimmt zwar, doch viele der Geschäfte gab es seit Jahrzehnten.
Als viele dieser Wohnblöcke in den 1970er/80er-Jahren entstanden, sah Chinas Kommunismus noch keinen privaten Einzelhandel vor. Vor jeder Wohnanlage gab es einen staatlich betriebenen Supermarkt, der die Anwohner mit den wichtigsten Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen versorgte. Die wirtschaftliche Öffnung hat das Konsumverhalten drastisch verändert. Um auf die veränderten Bedürfnisse einzugehen, begannen immer mehr Geschäftsbetreiber damit, Erdgeschosswohnungen zu Geschäftslokalen umzubauen. Das Ausdünnen macht schon Sinn. Der wahre Grund dürfte denn auch ein anderer sein: Im Zuge der Umstrukturierung der Stadt will Peking rund zwei Millionen einkommensschwacher Wanderarbeiter aus der Innenstadt vertreiben. Nach dem Willen der Stadtregierung soll sich die Bevölkerung in den komplett überfüllten Innenstadtbezirken in den nächsten Jahren um 15 Prozent verringern. Zugleich plant die Regierung im relativ öden Umland eine gigantische Megametropole für mehr als 100 Millionen Einwohner. Dafür müssen Leute aus der Innenstadt umgesiedelt werden.
Die Stadtverwaltung selbst wolle „mit gutem Beispiel“vorangehen, wie sie betont. Sie ist bereits dabei, einen Großteil ihrer Behörden nach Tongzhou zu verlegen, eine Satellitenstadt, die im Südosten Pekings entsteht. Pekings Vizebürgermeister hat stolz verkündet, dass die Einwohnerzahl der Innenstadtbezirke sich binnen eines halben Jahres um über 180.000 Menschen verringert habe.
Die Bevölkerung in der überfüllten Innenstadt soll rasch um 15 Prozent sinken.
Wandel zur Metropole der Elite? Doch es gibt auch Kritik: Viele Altpekinger befürchten, dass sich Peking durch diese Maßnahmen in eine Stadt der Elite verwandeln werde. Es würden nur diejenigen bleiben, die sich die horrenden Mieten leisten können und einen gut bezahlten Job in einer Bank, einem Großkonzern oder der Verwaltung haben. Schon jetzt haben die Immobilienpreise in Peking exorbitante Höhen erreicht. Wer nicht schon eine eigene Wohnung besitzt, kann sich die Stadt häufig nicht mehr leisten.
Am schlimmsten betroffen sind jedoch die Wanderarbeiter. In Peking sind derzeit rund neun der über 23 Millionen Bewohner nicht offiziell gemeldet, sondern lediglich geduldet. Sie haben den Status von Wanderarbeitern. Nach den Plänen der Stadtregierung soll ein Teil davon, die besonders gut ausgebildeten und qualifizierten Wanderarbeiter, bleiben dürfen und die vollen Bürgerrechte der Stadt erhalten. „Migranten werden nach ihrem Beitrag zur Stadt, ihren Qualifikationen sowie ihrem Bildungsstand bewertet“, schreibt die Zeitung China Daily. So was schimpft sich Kommunismus. Niedriger qualifizierte Wanderarbeiter, von denen sich Millionen mit besagten kleinen Geschäften und Imbissbuden über Wasser gehalten haben, sollen hingegen umgesiedelt werden. Für sie und ihre Familien ist kein Platz mehr in der pompösen Hauptstadt vorgesehen.
„Und so etwas nennt sich Kommunismus“, schimpft Geschäftsbetreiber Li Dong, und schaut auf sein abgerissenes Lokal, das ihm einst seine Einkommensquelle war. Und jetzt?