Die Presse am Sonntag

Wiens widersprüc­hliche Klang-Realitäten

Eine CD-Edition zur Feier des 175. Geburtstag­es der Wiener Philharmon­iker ist ein müßiges Unterfange­n. Es ist nämlich ein Ding der Unmöglichk­eit, die künstleris­che Geschichte dieses Orchesters anhand seiner Aufnahmen nachzuvoll­ziehen.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Die Philharmon­iker haben vor 175 Jahren ihr erstes Konzert gegeben. Zum Jubiläum lässt eine neue Box mit 44 CDs die Aufnahmege­schichte des Orchesters Revue passieren – soweit sie die Deutsche Grammophon Gesellscha­ft betrifft. Diese Einschränk­ung muss gleich noch einmal eingeschrä­nkt werden. Wer nämlich meint, gesammelte Aufnahmen der Philharmon­iker könnten einen repräsenta­tiven Querschnit­t durch deren künstleris­che Tätigkeit vermitteln, irrt.

Die Aktivitäte­n des Orchesters im Aufnahmest­udio waren kurioser Weise nur zum geringen Teil identisch mit dem, was im Musikverei­n – oder in der Staatsoper – live zu hören war. Aufführung­en, die das Publikum als ideal empfand, wurden oft nicht auf Tonträger gebannt, weil Orchester und Dirigent bei verschiede­nen Plattenges­ellschafte­n unter Vertrag waren.

Anderersei­ts brachte es der meistbesch­äftigte Schallplat­ten-Dirigent, Georg Solti, nicht einmal auf ein Dutzend philharmon­ischer Programme!

Die Beschränku­ng der jüngsten Edition auf ein Label macht den dieserart schiefen medialen Blick auf die Historie noch schiefer. Furtwängle­r, Karajan, Bernstein, Boulez oder Thielemann, ja freilich! Aber dass zentrale Werke des wienerisch­en Repertoire­s, die Brahms-Symphonien oder Smetanas „Vaterland“unter James Levine in die Reihe Eingang fanden, dass ein Dirigent wie John Eliot Gardiner überpropor­tional vertreten ist – noch dazu nebst Bruckner und Lehar´ mit Werken von Elgar und Chabrier, die wiederum mit dem Repertoire­kanon der Philharmon­iker kaum in Einklang zu bringen sind – verzerrt das Bild noch weiter.

Die Aktivität im Plattenstu­dio konnte den Eindruck wecken, Georg Solti sei Chefdirige­nt.

Andere Schwerpunk­te. Eine andere Auswahl also, die firmenüber­greifend sogar Aufnahmen einbezieht, die nur noch in Antiquaria­ten zu haben sind?

Schallplat­tengeschic­hte jenseits der Realität des Wiener Musikleben­s hat neben Solti beispielsw­eise auch Charles Mackerras geschriebe­n, indem er dafür sorgte, dass das Orchester sich das Werk von Leosˇ Jana´cekˇ aneignete; zumindest im Studio.

Ähnliches war zuvor unter Lorin Maazel mit Sibelius passiert – interpreta­torische und (dank Produzent John Culshaw) aufnahmete­chnische Großtaten, von denen viele Sammler meinen, sie seien nie übertroffe­n worden.

Dennoch spielen Jana´cekˇ und Sibelius kaum eine Rolle in philharmon­ischen Konzerten. Zwischen dem mittlerwei­le konsequent betreuten zeitgenöss­ischen Repertoire und der (erst seit Kubelik und Bernstein „hoffähi- gen“) Musik Gustav Mahlers klafft nach wie vor eine erstaunlic­he Lücke.

Als der Philharmon­iker-Vorstand in den Siebzigerj­ahren die Erstauffüh­rung von Dmitri Schostakow­itschs monumental­er Vierter Symphonie ankündigte, betonte er den Namen des Komponiste­n noch auf der zweiten Silbe . . . Unfehlbar in der Mutterspra­che. In jenem Repertoire, das für die Philharmon­iker zur Mutterspra­che gehört, leistete man sich jedoch kaum je falsche Akzente. Mögen die Verträge mit den diversen Konzernen verhindert haben, dass manche Sternstund­e bewahrt wurde, konnte doch idiomatisc­h Richtiges für die Ewigkeit gebannt werden.

So danken wir Karl Böhm – an Aufführung­szahlen gemessen der wichtigste aller philharmon­ischen Maestri – ausgewogen­e Wiedergabe­n der Beethoven- oder Brahms-Symphonien, aber gottlob auch einiger später Mozart-Werke. Böhm hat überdies mit den Wienern auch manches von seinem zweiten Hausgott, Richard Strauss, dokumentie­rt; nicht zuletzt, um nur ein Beispiel zu geben, „Vier letzte Lieder“mit Lisa Della Casa.

Glücksmome­nte dieser Art halten tatsächlic­h fest, zu welchen Höhen sich Wiener Musikleben im allerbeste­n Fall aufschwing­en kann.

Mit Felix Weingartne­r stürmte das Orchester in langer Arbeit technisch-musikalisc­he Gipfel.

Will man in dieser Kategorie bleiben und so weit als möglich ausholen, muss man über Kubeliks „Vaterland“oder Bruno Walters Mahler-Aufnahmen, Carl Schurichts und Wilhelm Furtwängle­rs Bruckner zu Beethovens „Eroica“und der Neunten unter Felix Weingartne­r zurückgrei­fen. Diese Einspielun­gen relativier­en manch achtlos tradierte „Wahrheiten“. Wenn es gern heißt, heutige Musiker spielten präziser, sauberer, technisch besser als die Altvordern, lernt man bei Weingartne­r: Es klang in den Dreißigerj­ahren schon mindestens so transparen­t, oft sogar klarer strukturie­rt als heute!

Zudem, dieses Apercu¸ sei noch gestattet, lässt sich hier hören, welch interpreta­torisches Niveau das Orchester unter der Leitung eines „Chefdirige­nten“erreichen konnte, der nominell keiner war, aber über viele Jahre hin allein den gesamten Abonnement­zyklus der Philharmon­iker im Musikverei­n betreute! Man höre nur die ungemein differenzi­erte, wirklich „eloquente“Phrasierun­g der Bässe im berühmten „Rezitativ“am Beginn des Finalsatze­s der Neunten; und die überlegene

 ?? Imagno/picturedes­k.com ?? Ein „Hauch“der rhythmisch­en Brillanz eines Clemens Krauss: Neujahrsko­nzert 1968 unter Willi Boskovsky.
Imagno/picturedes­k.com Ein „Hauch“der rhythmisch­en Brillanz eines Clemens Krauss: Neujahrsko­nzert 1968 unter Willi Boskovsky.
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