»Wir sind ein Pensionistenverein«
Reisen, Migration und Gewalt sind derzeit die Themen, die den Künstler Erwin Wurm in seinen Werken beschäftigen. Was er über Migration denkt und wann er »auf die Barrikaden gehen würde«, erzählte er der »Presse am Sonntag«.
Wie war die Biennale, wie war Venedig? Erwin Wurm: Sehr erfolgreich. Das Interesse und die Begeisterung – vor allem im Ausland – waren sehr groß. In der „New York Times“, Artsy und anderen Medien wurde mein Beitrag als „Must-see“bezeichnet. Aber ich hatte noch nie zuvor so eine anstrengende Ausstellung. Weil unter anderem die Genehmigung und die Umsetzung sehr schwierig waren. Der österreichische Pavillon gehört dem Staat Österreich, zuständig ist aber das italienische Denkmalamt. Das allein ist schon ein Ding der Unmöglichkeit, denn die italienischen Behörden sind sehr kompliziert. Und Venedig zu dieser Zeit – alles ist superteuer. Ein Beispiel: Der Truck, den ich ausgestellt habe, wurde ja weit hinter Moskau produziert. Ihn nach Maestre zu bringen war billiger als von Maestre zum Pavillon. Zu all dem kamen noch gefühlte hundert Interviews. Viele haben Ihre Ausstellungsstücke mit dem Thema Migration assoziiert. Gab es darauf auch politische Reaktionen? Ich habe die österreichischen Kritiken nicht gelesen. Aber es geht nicht nur um Migration, sondern ums Reisen insgesamt. Um Mobilität, den Tourismus, den Massentourismus – zum Teil auch im Wohnwagen. Und wenn man im Wohnwagen fährt, isoliert man sich ja total, weil man die eigenen Kleider, das eigene Essen und das eigene Bett mithat. Aber man duscht ja auch und nimmt sogar die eigenen Fäkalien wieder mit. Das ist echt absurd. Landläufig würde man meinen, dass der Individualtourist der gute und der Massentourist der böse ist. Aber wahrscheinlich stimmt das so gar nicht. Beides ist schädlich. Ich glaube, dass Tourismus letztendlich in jeder Form korrumpiert. Touristen, die nur mit Shorts bekleidet in einer buddhistischen Stadt in Laos herumlaufen, sind für jeden Buddhisten eine Kränkung. Oder wenn Touristen den Ayers Rock in Australien besteigen, missachten sie die Aborigines und ihren heiligen Berg. Und denken Sie an Thailand, dieses Land ist vom Tourismus zugrunde gerichtet worden. Tourismus verdirbt. Noch einmal zum Thema Migration: Auf den ersten Blick könnte man Ihr Werk als Solidarität zu den Flüchtlingen verstehen. Ist es das? Das Wort Migration kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie: Wanderung, Auswanderung oder Wohnortwechsel. Sesshaft wurde der Mensch erst relativ spät in der Geschichte. Allerdings gab es auch danach immer Wanderungen aus den verschiedensten Ursachen. Die Menschheitsgeschichte ist ohne diese treibende Kraft nicht denkbar! Die wandernden Gruppen haben immer schon ihr Hab und Gut mit sich herumgeschleppt. Um dies zu ermöglichen, hat der Mensch Werkzeuge erfunden, Pferde domestiziert, Kutschen gebaut und mehr. Und irgendwann gab es dann immer Idioten, die Werkzeuge zu Waffen gemacht haben. Das andere ist: Massentourismus ist auch eine Form von Migration. Ganz Nordeuropa ist mit den einsetzenden Massenströmen in den 1950er- und 1960Jahren nach Italien und ans Mittelmeer gefahren. Umgekehrt sind viele Menschen aus dem Süden nach Mittel- und Nordeuropa gekommen, um Arbeit zu finden. Zentrum war das Mittelmeer und ist es auch heute. Was ich sagen will: Migration ist eine Tatsache und a priori moralisch nicht wertbar! Migration hat es immer gegeben. Nur man muss halt schauen, wie man damit umgeht, wie man sie kanalisiert und was man daraus macht.
1954
wurde der Künstler Erwin Wurm in der Steiermark geboren. Er lebt in Wien und Limberg, Niederösterreich. Von Anfang an verwendete er für seine Kunstwerke Materialien des Alltags wie Holz, Dosen, Kleider. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Erwin Wurm mit seinen
„One Minute Sculptures“
Auf großes Interesse stießen auch seine
„Fat“-Skulpturen,
kleinbürgerliche Symbole wie Autos und Einfamilienhäuser in einem „verfetteten“Zustand.
2017
bekannt. gestaltete er bei der Biennale in Venedig gemeinsam mit Brigitte Kowanz den „Österreich“-Pavillon. Das heißt? Unsere liberalen Demokratien, die Freiheit, Rechtssicherheit, Menschenrechte, Gewaltentrennung zum obersten Prinzip erhoben haben, sind relativ fragile Staatsformen. Denn um zu funktionieren, benötigen sie ein Gleichgewicht der verschiedenen Interessengruppen im Staat. Diktaturen oder ähnliche Konstruktionen brauchen dieses Gleichgewicht nicht. Migration kann funktionieren, solange klar ist, dass die zuwandernden Gruppen im richtigen Verhältnis zur ansässigen Bevölkerung stehen und diese gewachsenen Strukturen weder weltanschaulich noch wirtschaftlich noch politisch gefährden. Sehen Sie unsere Werte und Strukturen gefährdet? Man muss leider sagen, was sich vor zwei Jahren abgespielt hat und von der damaligen Politik und verschiedenen Gruppen zum Meinungsdiktat erhoben wurde, stellte sich sehr schnell als unglaublich naiv und gefährlich dar. Niemand wollte damals wahrhaben, dass viele höchst gewaltbereite und gefährliche Menschen unsere Reisefreiheit missbrauchten, um unbemerkt von einem europäischen Land zum anderen zu gelangen und ihre kranken und mörderischen Vorhaben zu verwirklichen. Hat jemand damals davor gewarnt, wurde sofort die faschistische Keule ausgepackt und jede vernünftige Diskussion vernichtet. Zu Recht kann man diesen Gruppierungen heftige Vorwürfe machen. Der Staat war damals nicht in der Lage, seine Bevölkerung vor diesen Gefahren zu schützen. Inzwischen gab es ein Umdenken, aber ich befürchte, dass die Gefahren einer immer drängender auftretenden Gruppierung bei Weitem unterschätzt werden. Ich wundere mich oft, dass dieselben Leute, die sich zu Recht für die Emanzipation der Frauen einsetzen, Erwin Wurm, »Performative Skulpturen« In der Ausstellung wird erstmals der Werkblock der performativen Skulpturen und Plastiken umfassend präsentiert. Der Großteil wurde eigens dafür geschaffen. Vom 2. Juni bis 10. September, 21er-Haus, Arsenalstraße 1, 1030 Wien mit Scheuklappen ausgestattet sind und diese Situation nicht sehen wollen. Apropos Gewalt: Ist sie auch ein Thema Ihrer Arbeit? Ich habe von Anfang an Themen unserer Zeit aufgegriffen. Ich habe mich mit Alltagsmaterialien auseinandergesetzt, mit Tischlereiabfällen, später mit Dosen und Kleidern. Und nachdem ich immer Materialien genommen habe, die mir nahe waren, habe ich mich dafür entschieden, einfach alles zu nehmen, was mich umgibt und greifbar ist. Alles kann Ausgang für ein Kunstwerk sein, nicht nur Materialien, sondern auch Themen und Inhalte unserer Zeit. Darum habe ich mich mit dem Jugendkult, dem Schlankheitswahn oder Autos auseinandergesetzt. Und auch mit Gewalt. Unsere Zeit hat sich extrem radikalisiert. Um das Jahr 2000 hat man noch geschrieben, wir seien am Ende der Geschichte angelangt. Es passiere nichts mehr. Der Kapitalismus habe gesiegt, der Sozialismus sei besiegt, das wär’s jetzt. So schwer hat man sich getäuscht. Viele meinen, Europa sei auf dem besten Weg, wahlweise Altersheim oder Tourismusdestination der Welt zu werden. Die Musik spiele in Asien. Wie ist das aus künstlerischer Sicht? Künstlerisch ist die Welt sehr klein geworden. Mittlerweile schätzt man alle verschiedenen Variationen und Andersartigkeit. Nicht nur der Westen dominiert die Kunst, sondern auch Afrika, der Iran, der Irak, Indien, China, Südamerika und Asien sowieso. Also hier sind wir auf einem sehr guten Weg. Aber wenn ich nach Asien fahre, stelle ich mir schon immer wieder die Frage: Wie geht’s weiter mit Europa? Denn was die Menschen in Asien vorlegen . . . Inwiefern? Das hier ist alles lahmarschig im Vergleich dazu, was dort los ist. Die Asiaten verlangen sich viel mehr ab, die ziehen an. Wir sind ein Pensionistenverein, der seine Leute schützt und absichert. Ich war in Singapur und hatte die Gelegenheit, mit einigen Angestellten von Firmen zu sprechen, mit denen ich zu tun habe. Sie wussten nicht, was eine Pflichtversicherung ist. Sie versichern sich alle selbst, und es geht ihnen gut damit. Ein Tanz ohne Netz. Wir haben hier ja auch immer ohne Netz getanzt. Das Netz ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts und wahrscheinlich eine von kurzer Dauer. Aber jetzt werden wir schon wieder politisch. Sie sind ein politischer Mensch und wollen es aber irgendwie doch nicht sein. Ich bin ein politisch denkender Mensch, will aber nicht zu allem meine Meinung abgeben und spreche am liebsten über meine Arbeit. Ich bin durch den Humanismus und die Aufklärung sozialisiert worden. Würde man diese, unsere Werte, die Europa stark gemacht haben, aufgeben und vor mittelalterlichen, faschistoiden Strukturen zurückweichen, würde ich auswandern oder auf die Barrikaden gehen. In der Politik und im Journalismus gibt es die klare Regel: Ironie funktioniert nicht. In der Kunst schon? Mitunter. Ich habe lieber den Begriff des Paradoxen. Denn das Paradoxe hilft einem, die Welt anders zu sehen. Man begibt sich in eine schräge Position. Humor ist manchmal ein Teil des Paradoxen, weil er auch dazu befähigt, über eigene Lächerlichkeiten hinwegzusehen. Über sie sollte man – hoffentlich – lachen können. Wien hat sich verändert, es gibt viele Museen, neue architektonische Entwicklungen. Der große Wurf fehlt jedoch. Brauchte Wien etwas total Neues? Architektur allein ist bloß eine Hülle. In den Köpfen der Menschen muss etwas passieren. Es geht nicht um eine materielle Manifestation des Willens, sondern um den Willen, etwas Neues, Großes zu schaffen. Der fehlt halt bei uns. Und damit sind wir schon wieder bei der Politik. Die große Staats- und Verwaltungsreform gab es immer noch nicht. Bei uns doktert jeder nur kleinklein herum, nur um sich nicht hinauszulehnen. Es soll ja nichts passieren. Nur, a` la longue kann das der Tod einer Gesellschaft sein.