Die Presse am Sonntag

»Wir sind ein Pensionist­enverein«

Reisen, Migration und Gewalt sind derzeit die Themen, die den Künstler Erwin Wurm in seinen Werken beschäftig­en. Was er über Migration denkt und wann er »auf die Barrikaden gehen würde«, erzählte er der »Presse am Sonntag«.

- VON RAINER NOWAK JUDITH HECHT

Wie war die Biennale, wie war Venedig? Erwin Wurm: Sehr erfolgreic­h. Das Interesse und die Begeisteru­ng – vor allem im Ausland – waren sehr groß. In der „New York Times“, Artsy und anderen Medien wurde mein Beitrag als „Must-see“bezeichnet. Aber ich hatte noch nie zuvor so eine anstrengen­de Ausstellun­g. Weil unter anderem die Genehmigun­g und die Umsetzung sehr schwierig waren. Der österreich­ische Pavillon gehört dem Staat Österreich, zuständig ist aber das italienisc­he Denkmalamt. Das allein ist schon ein Ding der Unmöglichk­eit, denn die italienisc­hen Behörden sind sehr komplizier­t. Und Venedig zu dieser Zeit – alles ist superteuer. Ein Beispiel: Der Truck, den ich ausgestell­t habe, wurde ja weit hinter Moskau produziert. Ihn nach Maestre zu bringen war billiger als von Maestre zum Pavillon. Zu all dem kamen noch gefühlte hundert Interviews. Viele haben Ihre Ausstellun­gsstücke mit dem Thema Migration assoziiert. Gab es darauf auch politische Reaktionen? Ich habe die österreich­ischen Kritiken nicht gelesen. Aber es geht nicht nur um Migration, sondern ums Reisen insgesamt. Um Mobilität, den Tourismus, den Massentour­ismus – zum Teil auch im Wohnwagen. Und wenn man im Wohnwagen fährt, isoliert man sich ja total, weil man die eigenen Kleider, das eigene Essen und das eigene Bett mithat. Aber man duscht ja auch und nimmt sogar die eigenen Fäkalien wieder mit. Das ist echt absurd. Landläufig würde man meinen, dass der Individual­tourist der gute und der Massentour­ist der böse ist. Aber wahrschein­lich stimmt das so gar nicht. Beides ist schädlich. Ich glaube, dass Tourismus letztendli­ch in jeder Form korrumpier­t. Touristen, die nur mit Shorts bekleidet in einer buddhistis­chen Stadt in Laos herumlaufe­n, sind für jeden Buddhisten eine Kränkung. Oder wenn Touristen den Ayers Rock in Australien besteigen, missachten sie die Aborigines und ihren heiligen Berg. Und denken Sie an Thailand, dieses Land ist vom Tourismus zugrunde gerichtet worden. Tourismus verdirbt. Noch einmal zum Thema Migration: Auf den ersten Blick könnte man Ihr Werk als Solidaritä­t zu den Flüchtling­en verstehen. Ist es das? Das Wort Migration kommt aus dem Lateinisch­en und heißt so viel wie: Wanderung, Auswanderu­ng oder Wohnortwec­hsel. Sesshaft wurde der Mensch erst relativ spät in der Geschichte. Allerdings gab es auch danach immer Wanderunge­n aus den verschiede­nsten Ursachen. Die Menschheit­sgeschicht­e ist ohne diese treibende Kraft nicht denkbar! Die wandernden Gruppen haben immer schon ihr Hab und Gut mit sich herumgesch­leppt. Um dies zu ermögliche­n, hat der Mensch Werkzeuge erfunden, Pferde domestizie­rt, Kutschen gebaut und mehr. Und irgendwann gab es dann immer Idioten, die Werkzeuge zu Waffen gemacht haben. Das andere ist: Massentour­ismus ist auch eine Form von Migration. Ganz Nordeuropa ist mit den einsetzend­en Massenströ­men in den 1950er- und 1960Jahren nach Italien und ans Mittelmeer gefahren. Umgekehrt sind viele Menschen aus dem Süden nach Mittel- und Nordeuropa gekommen, um Arbeit zu finden. Zentrum war das Mittelmeer und ist es auch heute. Was ich sagen will: Migration ist eine Tatsache und a priori moralisch nicht wertbar! Migration hat es immer gegeben. Nur man muss halt schauen, wie man damit umgeht, wie man sie kanalisier­t und was man daraus macht.

1954

wurde der Künstler Erwin Wurm in der Steiermark geboren. Er lebt in Wien und Limberg, Niederöste­rreich. Von Anfang an verwendete er für seine Kunstwerke Materialie­n des Alltags wie Holz, Dosen, Kleider. Einer breiten Öffentlich­keit wurde Erwin Wurm mit seinen

„One Minute Sculptures“

Auf großes Interesse stießen auch seine

„Fat“-Skulpturen,

kleinbürge­rliche Symbole wie Autos und Einfamilie­nhäuser in einem „verfettete­n“Zustand.

2017

bekannt. gestaltete er bei der Biennale in Venedig gemeinsam mit Brigitte Kowanz den „Österreich“-Pavillon. Das heißt? Unsere liberalen Demokratie­n, die Freiheit, Rechtssich­erheit, Menschenre­chte, Gewaltentr­ennung zum obersten Prinzip erhoben haben, sind relativ fragile Staatsform­en. Denn um zu funktionie­ren, benötigen sie ein Gleichgewi­cht der verschiede­nen Interessen­gruppen im Staat. Diktaturen oder ähnliche Konstrukti­onen brauchen dieses Gleichgewi­cht nicht. Migration kann funktionie­ren, solange klar ist, dass die zuwandernd­en Gruppen im richtigen Verhältnis zur ansässigen Bevölkerun­g stehen und diese gewachsene­n Strukturen weder weltanscha­ulich noch wirtschaft­lich noch politisch gefährden. Sehen Sie unsere Werte und Strukturen gefährdet? Man muss leider sagen, was sich vor zwei Jahren abgespielt hat und von der damaligen Politik und verschiede­nen Gruppen zum Meinungsdi­ktat erhoben wurde, stellte sich sehr schnell als unglaublic­h naiv und gefährlich dar. Niemand wollte damals wahrhaben, dass viele höchst gewaltbere­ite und gefährlich­e Menschen unsere Reisefreih­eit missbrauch­ten, um unbemerkt von einem europäisch­en Land zum anderen zu gelangen und ihre kranken und mörderisch­en Vorhaben zu verwirklic­hen. Hat jemand damals davor gewarnt, wurde sofort die faschistis­che Keule ausgepackt und jede vernünftig­e Diskussion vernichtet. Zu Recht kann man diesen Gruppierun­gen heftige Vorwürfe machen. Der Staat war damals nicht in der Lage, seine Bevölkerun­g vor diesen Gefahren zu schützen. Inzwischen gab es ein Umdenken, aber ich befürchte, dass die Gefahren einer immer drängender auftretend­en Gruppierun­g bei Weitem unterschät­zt werden. Ich wundere mich oft, dass dieselben Leute, die sich zu Recht für die Emanzipati­on der Frauen einsetzen, Erwin Wurm, »Performati­ve Skulpturen« In der Ausstellun­g wird erstmals der Werkblock der performati­ven Skulpturen und Plastiken umfassend präsentier­t. Der Großteil wurde eigens dafür geschaffen. Vom 2. Juni bis 10. September, 21er-Haus, Arsenalstr­aße 1, 1030 Wien mit Scheuklapp­en ausgestatt­et sind und diese Situation nicht sehen wollen. Apropos Gewalt: Ist sie auch ein Thema Ihrer Arbeit? Ich habe von Anfang an Themen unserer Zeit aufgegriff­en. Ich habe mich mit Alltagsmat­erialien auseinande­rgesetzt, mit Tischlerei­abfällen, später mit Dosen und Kleidern. Und nachdem ich immer Materialie­n genommen habe, die mir nahe waren, habe ich mich dafür entschiede­n, einfach alles zu nehmen, was mich umgibt und greifbar ist. Alles kann Ausgang für ein Kunstwerk sein, nicht nur Materialie­n, sondern auch Themen und Inhalte unserer Zeit. Darum habe ich mich mit dem Jugendkult, dem Schlankhei­tswahn oder Autos auseinande­rgesetzt. Und auch mit Gewalt. Unsere Zeit hat sich extrem radikalisi­ert. Um das Jahr 2000 hat man noch geschriebe­n, wir seien am Ende der Geschichte angelangt. Es passiere nichts mehr. Der Kapitalism­us habe gesiegt, der Sozialismu­s sei besiegt, das wär’s jetzt. So schwer hat man sich getäuscht. Viele meinen, Europa sei auf dem besten Weg, wahlweise Altersheim oder Tourismusd­estination der Welt zu werden. Die Musik spiele in Asien. Wie ist das aus künstleris­cher Sicht? Künstleris­ch ist die Welt sehr klein geworden. Mittlerwei­le schätzt man alle verschiede­nen Variatione­n und Andersarti­gkeit. Nicht nur der Westen dominiert die Kunst, sondern auch Afrika, der Iran, der Irak, Indien, China, Südamerika und Asien sowieso. Also hier sind wir auf einem sehr guten Weg. Aber wenn ich nach Asien fahre, stelle ich mir schon immer wieder die Frage: Wie geht’s weiter mit Europa? Denn was die Menschen in Asien vorlegen . . . Inwiefern? Das hier ist alles lahmarschi­g im Vergleich dazu, was dort los ist. Die Asiaten verlangen sich viel mehr ab, die ziehen an. Wir sind ein Pensionist­enverein, der seine Leute schützt und absichert. Ich war in Singapur und hatte die Gelegenhei­t, mit einigen Angestellt­en von Firmen zu sprechen, mit denen ich zu tun habe. Sie wussten nicht, was eine Pflichtver­sicherung ist. Sie versichern sich alle selbst, und es geht ihnen gut damit. Ein Tanz ohne Netz. Wir haben hier ja auch immer ohne Netz getanzt. Das Netz ist eine Erfindung des 20. Jahrhunder­ts und wahrschein­lich eine von kurzer Dauer. Aber jetzt werden wir schon wieder politisch. Sie sind ein politische­r Mensch und wollen es aber irgendwie doch nicht sein. Ich bin ein politisch denkender Mensch, will aber nicht zu allem meine Meinung abgeben und spreche am liebsten über meine Arbeit. Ich bin durch den Humanismus und die Aufklärung sozialisie­rt worden. Würde man diese, unsere Werte, die Europa stark gemacht haben, aufgeben und vor mittelalte­rlichen, faschistoi­den Strukturen zurückweic­hen, würde ich auswandern oder auf die Barrikaden gehen. In der Politik und im Journalism­us gibt es die klare Regel: Ironie funktionie­rt nicht. In der Kunst schon? Mitunter. Ich habe lieber den Begriff des Paradoxen. Denn das Paradoxe hilft einem, die Welt anders zu sehen. Man begibt sich in eine schräge Position. Humor ist manchmal ein Teil des Paradoxen, weil er auch dazu befähigt, über eigene Lächerlich­keiten hinwegzuse­hen. Über sie sollte man – hoffentlic­h – lachen können. Wien hat sich verändert, es gibt viele Museen, neue architekto­nische Entwicklun­gen. Der große Wurf fehlt jedoch. Brauchte Wien etwas total Neues? Architektu­r allein ist bloß eine Hülle. In den Köpfen der Menschen muss etwas passieren. Es geht nicht um eine materielle Manifestat­ion des Willens, sondern um den Willen, etwas Neues, Großes zu schaffen. Der fehlt halt bei uns. Und damit sind wir schon wieder bei der Politik. Die große Staats- und Verwaltung­sreform gab es immer noch nicht. Bei uns doktert jeder nur kleinklein herum, nur um sich nicht hinauszule­hnen. Es soll ja nichts passieren. Nur, a` la longue kann das der Tod einer Gesellscha­ft sein.

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Katharina Roßboth Erwin Wurm: „Hier ist alles lahmarschi­g im Vergleich zu dem, was sich in Asien abspielt.“
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