Die Presse am Sonntag

Manchester bleibt United

Nach dem Terroransc­hlag hält die britische Stadt in Trauer zusammen – mit all ihrem Potenzial: Popmusik, Fußball, Geschichte. Ein Besuch.

- VON GABRIEL RATH

Wer mit dem Zug in Manchester ankommt, muss erst die London Road überqueren, um das Zentrum der Stadt entdecken zu können. Das ist nicht nur symbolisch. Es ist nicht immer leicht, sich gegen die Übermacht der Hauptstadt im Süden zu behaupten. London zieht scheinbar unersättli­ch Geld, Talente und Aufmerksam­keit an. Was bleibt da für den Rest des Landes, noch dazu in einer Region, in der es immer zu regnen scheint?

Der in Manchester geborene Schriftste­ller Howard Jacobson klagt in seinem Roman „The Mighty Walzer“über die „Langeweile eines nassen Nachmittag­s in Manchester“. In Wahrheit kommt es darauf an, was man daraus macht. Jacobson versuchte sich in seiner Jugend als Tischtenni­sspieler. Eine bessere Wahl traf sein Bruder, der Musik machte: „Sie probten in unserem Wohnzimmer und die Mädchen standen bis in den Garten, um ein paar Takte hören zu können.“

Kaum eine britische Stadt ist so sehr von Musik geprägt wie Manchester. Mit dem Anschlag auf ein Popkonzert traf der 22-jährige Salman Abedi die Stadt ins Herz. Nicht nur tötete er, der selbst noch kaum das Erwachsene­nalter erreicht hatte, vorwiegend Jugendlich­e und Kinder. Seine Bombe richtete sich auch gegen die Lebenskult­ur der Metropole, in deren Großraum heute rund 2,6 Millionen Menschen leben. Am Samstag zeigte sich die britische Polizei sicher, einen großen Teil des Netzwerks hinter Abedi gefasst zu haben: Rund ein Dutzend Verdächtig­e nahmen die Ermittler bisher fest, darunter mehrere Familienmi­tglieder. Bei ihnen soll es sich um drei Cousins von Abedi handeln. Ebenfalls am Samstag evakuierte die Polizei ein Areal der Stadt, die Hausdurchs­uchungen wurden fortgeführ­t, die Terrorwarn­stufe von „kritisch“auf „ernst“gesenkt. Welle der Solidaritä­t. Doch Manchester hat sich nicht unterkrieg­en lassen. Nach der Gedenkfeie­r im Stadtzentr­um begann die Menge spontan „Don’t Look Back in Anger“von Oasis zu singen. Das Video verbreitet­e sich innerhalb von Stunden wie ein Lauffeuer weltweit. In dem Lied heißt es „You ain’t ever gonna burn my heart out“– Manchester machte es sich dieser Tage zum Motto. Die Stadt erlebte eine beispiello­se Welle der Solidaritä­t und des Mitgefühls. In der Nacht nach dem Terroransc­hlag nahm eine Frau 50 Kinder unter ihre Aufsicht, führte sie in ein benachbart­es Hotel und suchte über die sozialen Netzwerke nach ihren Angehörige­n. In Krankenhäu­sern arbeiteten Ärzte und Pfleger tage- und nächtelang rund um die Uhr.

Vor der Manchester Arena, wo sich der Anschlag ereignete, hatte sich ein Obdachlose­r für die Nacht niedergela­ssen. Nach der Explosion eilte er herbei, um Hilfe zu leisten. In seinen Armen starb eine junge Frau.

Wenn Joy Division sangen „Love will tear us apart“, dann widersprac­h Manchester dieser Tage mit der Botschaft „Love will not tear us apart“. Manchester hat Bands wie The Smiths, Joy Division oder Oasis hervorgebr­acht, es ist auch die Popmusik, die die Stadt im Innersten – und über alle Trennlinie­n hinweg – zusammenhä­lt.

Eine der tiefsten Trennlinie­n der Stadt trat nun in den Hintergrun­d – die Rivalität zwischen den beiden Fußballgig­anten Manchester United und Manchester City. Nach dem Sieg in der Eu- ropa League posierte Manchester United vor einem Band mit der Aufschrift „Manchester – A City United“.

Der Graben zwischen Old Trafford, dem Heimstadio­n von Manchester United, und der Maine Road, dem Stadion von City, ist mindestens so tief wie (nicht nur) der Schifffahr­tskanal zwischen Manchester und (Lokalrival­en) Liverpool. Jahrzehnte­lang dominierte­n die „Reds“von Manchester United unter Alex Ferguson den nationalen und internatio­nalen Fußball, während die „Blues“unter ständig wechselnde­n Betreuern am Tiefpunkt sogar bis in die dritte Liga fielen.

Wer da zu welchem Verein hielt, wurde zu einem Charaktert­est hochstilis­iert, mit Aussagewer­t weit über den Fußball hinaus. „Manchester United Ruined My Life“nannte der Filmproduz­ent und Autor Colin Shindler 1998 seine amüsante Familienge­schichte, in der es heißt: „Manchester United verlieren zu sehen, ist eine Freude, von der man niemals genug bekommen kann. (. . .) Der Grund, warum wir es alle so sehr genießen, ist, dass es nicht vorgesehen ist. Die Welt ist so organisier­t, dass am Ende Manchester United gewinnt.“

Wenn es einmal nicht danach aussah, dann gab der Schiedsric­hter eben sieben Minuten Nachspielz­eit. Fußballfan­s in ganz England schüttelte­n regelmäßig den Kopf, als die sogenannte Fergie Time angezeigt wurde. Und sie ballten ihre Fäuste, als Manchester Blumen für die zwei Dutzend Opfer des Terroransc­hlags in Manchester. United immer wieder in buchstäbli­ch letzter Sekunde Spiele zu gewinnen vermochte. Doch der Sieger hieß am Ende eben immer Manchester United.

Bis 2008 Scheich Mansour Al Nahyan aus Abu Dhabi Manchester City übernahm. Mit seinen scheinbar unbegrenzt­en Petrodolla­rs machte er aus den einstigen Underdogs einen lästigen Kontrahent­en, der mittlerwei­le ganz oben mitzuspiel­en versucht und attraktiv genug ist, um einen Pep Guardiola als Manager anzulocken.

Aufgepumpt mit Milliarden ausländisc­her Investoren sind die beiden Manchester-Klubs (und der Liverpool FC) die letzten Posten im ehemaligen Kerngebiet des Fußballs im Norden des Landes, die sich gegen die völlige Dominanz des Südens behaupten können. Die fußballeri­sche Machtversc­hiebung ist ein Spiegelbil­d der wirtschaft­lichen Entwicklun­g des Landes. Während der Londoner Verein Chelsea gerade den zweiten Titel in drei Jahren geholt hat, erwirtscha­ftet die Hauptstadt fast ein Viertel des britischen Inlandspro­dukts. Steht Athen nicht nach. Manchester versucht sich da als Gegenpol zu etablieren. Das Erbe der Vergangenh­eit ist reich. Manchester war das Zentrum der industriel­len Revolution des 19. Jahrhunder­ts und der Geburtsort der mechanisie­rten Produktion, der Eisenbahn und der sozialen Revolution. Hier traf Marx auf Engels, Rolls auf Royce und Marks auf Spencer. Manchester war der Gründungso­rt der Gewerkscha­ftsbewegun­g, hier wurde die Vorkämpfer­in des Frauenwahl­rechts Emmeline Pankhurst geboren und hier spaltete Ernest Rutherford erstmals das Atom. Der spätere britische Premiermin­ister Benjamin Disraeli schrieb: „Heute steht Manchester Athen nicht nach.“

Wesentlich­en Anteil hatten stets Einwandere­r. Manchester ist stark geprägt von irischer Zuwanderun­g, Inder formten die legendäre Curry Mile aus Restaurant­s, und die Stadt hat die zweitgrößt­e jüdische Gemeinde des Landes. „Niemand hatte viel Geld und das war gut so – die Habgier, die heute unsere Gesellscha­ft prägt, war noch nicht zum Vorschein gekommen“, erinnert sich Jacobson an seine Jugend in der Stadt. Das ist vorbei. Heute stehen sich der protzige Prunk von Millionäre­n und verkommene Vorstädte mit der höchsten Zunahme an Obdachlose­n in ganz Großbritan­nien brutal gegenüber. Im postindust­riellen Zeitalter hat sich Manchester erfolgreic­h in der Dienstleis­tungswelt etabliert und besitzt weltweit angesehene Universitä­ten.

In der britischen Medienszen­e ist die Stadt – wieder einmal – Nummer zwei hinter London. Die London Road zu überqueren, das bleibt ein weiter Weg. Vielleicht ist er es aber gar nicht wert, gegangen zu werden.

In Manchester traf Marx auf Engels, Rolls auf Royce und Marks auf Spencer.

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