Manchester bleibt United
Nach dem Terroranschlag hält die britische Stadt in Trauer zusammen – mit all ihrem Potenzial: Popmusik, Fußball, Geschichte. Ein Besuch.
Wer mit dem Zug in Manchester ankommt, muss erst die London Road überqueren, um das Zentrum der Stadt entdecken zu können. Das ist nicht nur symbolisch. Es ist nicht immer leicht, sich gegen die Übermacht der Hauptstadt im Süden zu behaupten. London zieht scheinbar unersättlich Geld, Talente und Aufmerksamkeit an. Was bleibt da für den Rest des Landes, noch dazu in einer Region, in der es immer zu regnen scheint?
Der in Manchester geborene Schriftsteller Howard Jacobson klagt in seinem Roman „The Mighty Walzer“über die „Langeweile eines nassen Nachmittags in Manchester“. In Wahrheit kommt es darauf an, was man daraus macht. Jacobson versuchte sich in seiner Jugend als Tischtennisspieler. Eine bessere Wahl traf sein Bruder, der Musik machte: „Sie probten in unserem Wohnzimmer und die Mädchen standen bis in den Garten, um ein paar Takte hören zu können.“
Kaum eine britische Stadt ist so sehr von Musik geprägt wie Manchester. Mit dem Anschlag auf ein Popkonzert traf der 22-jährige Salman Abedi die Stadt ins Herz. Nicht nur tötete er, der selbst noch kaum das Erwachsenenalter erreicht hatte, vorwiegend Jugendliche und Kinder. Seine Bombe richtete sich auch gegen die Lebenskultur der Metropole, in deren Großraum heute rund 2,6 Millionen Menschen leben. Am Samstag zeigte sich die britische Polizei sicher, einen großen Teil des Netzwerks hinter Abedi gefasst zu haben: Rund ein Dutzend Verdächtige nahmen die Ermittler bisher fest, darunter mehrere Familienmitglieder. Bei ihnen soll es sich um drei Cousins von Abedi handeln. Ebenfalls am Samstag evakuierte die Polizei ein Areal der Stadt, die Hausdurchsuchungen wurden fortgeführt, die Terrorwarnstufe von „kritisch“auf „ernst“gesenkt. Welle der Solidarität. Doch Manchester hat sich nicht unterkriegen lassen. Nach der Gedenkfeier im Stadtzentrum begann die Menge spontan „Don’t Look Back in Anger“von Oasis zu singen. Das Video verbreitete sich innerhalb von Stunden wie ein Lauffeuer weltweit. In dem Lied heißt es „You ain’t ever gonna burn my heart out“– Manchester machte es sich dieser Tage zum Motto. Die Stadt erlebte eine beispiellose Welle der Solidarität und des Mitgefühls. In der Nacht nach dem Terroranschlag nahm eine Frau 50 Kinder unter ihre Aufsicht, führte sie in ein benachbartes Hotel und suchte über die sozialen Netzwerke nach ihren Angehörigen. In Krankenhäusern arbeiteten Ärzte und Pfleger tage- und nächtelang rund um die Uhr.
Vor der Manchester Arena, wo sich der Anschlag ereignete, hatte sich ein Obdachloser für die Nacht niedergelassen. Nach der Explosion eilte er herbei, um Hilfe zu leisten. In seinen Armen starb eine junge Frau.
Wenn Joy Division sangen „Love will tear us apart“, dann widersprach Manchester dieser Tage mit der Botschaft „Love will not tear us apart“. Manchester hat Bands wie The Smiths, Joy Division oder Oasis hervorgebracht, es ist auch die Popmusik, die die Stadt im Innersten – und über alle Trennlinien hinweg – zusammenhält.
Eine der tiefsten Trennlinien der Stadt trat nun in den Hintergrund – die Rivalität zwischen den beiden Fußballgiganten Manchester United und Manchester City. Nach dem Sieg in der Eu- ropa League posierte Manchester United vor einem Band mit der Aufschrift „Manchester – A City United“.
Der Graben zwischen Old Trafford, dem Heimstadion von Manchester United, und der Maine Road, dem Stadion von City, ist mindestens so tief wie (nicht nur) der Schifffahrtskanal zwischen Manchester und (Lokalrivalen) Liverpool. Jahrzehntelang dominierten die „Reds“von Manchester United unter Alex Ferguson den nationalen und internationalen Fußball, während die „Blues“unter ständig wechselnden Betreuern am Tiefpunkt sogar bis in die dritte Liga fielen.
Wer da zu welchem Verein hielt, wurde zu einem Charaktertest hochstilisiert, mit Aussagewert weit über den Fußball hinaus. „Manchester United Ruined My Life“nannte der Filmproduzent und Autor Colin Shindler 1998 seine amüsante Familiengeschichte, in der es heißt: „Manchester United verlieren zu sehen, ist eine Freude, von der man niemals genug bekommen kann. (. . .) Der Grund, warum wir es alle so sehr genießen, ist, dass es nicht vorgesehen ist. Die Welt ist so organisiert, dass am Ende Manchester United gewinnt.“
Wenn es einmal nicht danach aussah, dann gab der Schiedsrichter eben sieben Minuten Nachspielzeit. Fußballfans in ganz England schüttelten regelmäßig den Kopf, als die sogenannte Fergie Time angezeigt wurde. Und sie ballten ihre Fäuste, als Manchester Blumen für die zwei Dutzend Opfer des Terroranschlags in Manchester. United immer wieder in buchstäblich letzter Sekunde Spiele zu gewinnen vermochte. Doch der Sieger hieß am Ende eben immer Manchester United.
Bis 2008 Scheich Mansour Al Nahyan aus Abu Dhabi Manchester City übernahm. Mit seinen scheinbar unbegrenzten Petrodollars machte er aus den einstigen Underdogs einen lästigen Kontrahenten, der mittlerweile ganz oben mitzuspielen versucht und attraktiv genug ist, um einen Pep Guardiola als Manager anzulocken.
Aufgepumpt mit Milliarden ausländischer Investoren sind die beiden Manchester-Klubs (und der Liverpool FC) die letzten Posten im ehemaligen Kerngebiet des Fußballs im Norden des Landes, die sich gegen die völlige Dominanz des Südens behaupten können. Die fußballerische Machtverschiebung ist ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Während der Londoner Verein Chelsea gerade den zweiten Titel in drei Jahren geholt hat, erwirtschaftet die Hauptstadt fast ein Viertel des britischen Inlandsprodukts. Steht Athen nicht nach. Manchester versucht sich da als Gegenpol zu etablieren. Das Erbe der Vergangenheit ist reich. Manchester war das Zentrum der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts und der Geburtsort der mechanisierten Produktion, der Eisenbahn und der sozialen Revolution. Hier traf Marx auf Engels, Rolls auf Royce und Marks auf Spencer. Manchester war der Gründungsort der Gewerkschaftsbewegung, hier wurde die Vorkämpferin des Frauenwahlrechts Emmeline Pankhurst geboren und hier spaltete Ernest Rutherford erstmals das Atom. Der spätere britische Premierminister Benjamin Disraeli schrieb: „Heute steht Manchester Athen nicht nach.“
Wesentlichen Anteil hatten stets Einwanderer. Manchester ist stark geprägt von irischer Zuwanderung, Inder formten die legendäre Curry Mile aus Restaurants, und die Stadt hat die zweitgrößte jüdische Gemeinde des Landes. „Niemand hatte viel Geld und das war gut so – die Habgier, die heute unsere Gesellschaft prägt, war noch nicht zum Vorschein gekommen“, erinnert sich Jacobson an seine Jugend in der Stadt. Das ist vorbei. Heute stehen sich der protzige Prunk von Millionären und verkommene Vorstädte mit der höchsten Zunahme an Obdachlosen in ganz Großbritannien brutal gegenüber. Im postindustriellen Zeitalter hat sich Manchester erfolgreich in der Dienstleistungswelt etabliert und besitzt weltweit angesehene Universitäten.
In der britischen Medienszene ist die Stadt – wieder einmal – Nummer zwei hinter London. Die London Road zu überqueren, das bleibt ein weiter Weg. Vielleicht ist er es aber gar nicht wert, gegangen zu werden.
In Manchester traf Marx auf Engels, Rolls auf Royce und Marks auf Spencer.