Die Presse am Sonntag

Eine Stadt und ihr »Vorfall«

Wenn in Tulln über Asylwerber gesprochen wurde, ging es bisher stets um ihre vorbildlic­he Betreuung. Dann kam der 25. April. Seither ist von »Enttäuschu­ng« und »Entfremdun­g« die Rede.

- VON KÖKSAL BALTACI

Ob im Wirtshaus, in der Schule, beim Friseur, auf dem Fußballpla­tz oder an der Bushaltest­elle – in Tulln gibt es derzeit kaum einen Ort, an dem nicht über den „Vorfall“gesprochen wird. Wo Menschen zusammenko­mmen, egal, ob sie sich kennen oder nicht, ist der „Vorfall“das dominieren­de Thema in der 15.000 Einwohner zählenden Stadt in Niederöste­rreich.

Wenn davon die Rede ist, weiß jeder, was gemeint ist. Und jeder hat eine Meinung dazu. Oder besser gesagt, einen „Standpunkt“, wie es die Kellnerin eines Innenstadt­lokals formuliert. Sie wird jeden Tag Zeugin davon, dass „der Vorfall niemanden kaltlässt. Alle wissen davon, alle reden darüber. Selbst die, die gar nicht darüber reden wollen. Wie ich. Aber man kommt einfach nicht aus.“

Mittlerwei­le wissen nicht nur in Tulln alle davon, der Fall eines 15-jährigen Mädchens hat in ganz Österreich traurige Bekannthei­t erlangt. Die Jugendlich­e hatte angegeben, am 25. April kurz nach 22 Uhr auf dem Nachhausew­eg vom Bahnhof von drei jungen Asylwerber­n überfallen und vergewalti­gt worden zu sein. Zwei von ihnen hätten sich nacheinand­er an ihr vergangen, während der dritte Mann aufgepasst habe, dass sie niemand dabei beobachtet. 59 Männer getestet. Nach der Anzeige am nächsten Morgen wurde die 15-Jährige untersucht, dabei fanden die Ärzte Spermaspur­en von zwei Männern. Auf Anordnung der Staatsanwa­ltschaft mussten daraufhin 59 Männer DNA-Proben abgeben.

Bei ihnen handelte es sich um 34 Asylwerber aus drei Containerd­örfern und um weitere 25, die in privaten Unterkünft­en in Tulln untergebra­cht sind. Noch nie war in Österreich eine Untersuchu­ng mit Massen-DNA-Proben veranlasst worden.

Zwei Wochen später, am 16. Mai, wurde ein Afghane aufgrund der Übereinsti­mmung seiner DNA mit den gesicherte­n Spuren festgenomm­en. Zwei Tage später stellte sich ein Somalier selbst bei der Polizei, auch bei ihm gibt es eine DNA-Übereinsti­mmung. Beide sind seither in Untersuchu­ngshaft.

Ob nach einem dritten Verdächtig­en gefahndet wird, will die Staatsanwa­ltschaft „aus kriminalta­ktischen Gründen“nicht sagen. Auch sonst werden keine weiteren Details zu dem Fall bekannt gegeben. Informatio­nen der „Presse am Sonntag“zufolge sind die Männer jedenfalls nicht geständig, sie sprechen von einvernehm­lichem Sex.

Über das Verfahren selbst will auch Tullns Bürgermeis­ter Peter Eisenschen­k (ÖVP) nicht sprechen. Er hatte als erste Maßnahme unmittelba­r nach dem Bekanntwer­den, dass die Verdächtig­en aus Tulln stammen, die Zuteilung weiterer Asylwerber verweigert. Diese Entscheidu­ng habe er „innerhalb weniger Minuten“treffen müssen und habe sie „ganz allein“getroffen, wie er betont.

Dies sei angesichts der geladenen Stimmung in Tulln notwendig gewesen. Vor allem, um zu deeskalier­en und die aufgebrach­ten Gemüter zu beruhigen – so habe er etwa eine E-Mail mit der Nachricht erhalten, wonach sich „entweder die Politik um die Angelegenh­eit kümmert, oder wir nehmen das selbst in die Hand“.

Zudem sei es notwendig gewesen, zu betonen, dass auf so einen Vorfall reagiert und signalisie­rt wird, dass „es null Toleranz gegenüber straffälli­gen Asylwerber­n gibt, die das Gastrecht missbrauch­en“, sagt Eisenschen­k. „Denn Sie glauben ja nicht, was ich in den vergangene­n Tagen noch für E-Mails bekommen habe. Ich will nicht alle wiederhole­n, nur so viel: Teilweise waren sie aus der untersten Schublade.“Plötzlich sei die Arbeit der Hunderten Helfer auf dem Spiel gestanden, die sich bisher mit viel Einsatz um die Asylwerber gekümmert hätten. Sieben Quartiere. Tatsächlic­h gilt Tulln als Vorzeigebe­ispiel, wenn es um die Unterbring­ung und Betreuung von Asylwerber­n geht. Während des großen Flüchtling­sstroms im Sommer 2015 wurden Tausende Personen kurzfristi­g in der Messehalle versorgt.

Dann entstanden fünf Containerq­uartiere, in denen jeweils bis zu 20 Asylwerber wohnen können. Zwei weitere liegen außerhalb von Tulln. Insgesamt leben derzeit 81 Menschen aus diversen Ländern wie Afghanista­n, Irak etc. in diesen Containern, wobei sich diese Zahl praktisch täglich ändert, wie das für die Quartiere zuständige Rote Kreuz mitteilt.

Größere Probleme gab es bisher kaum. Freizeit- und Sportangeb­ote wurden durchaus angenommen. Auch Deutschkur­se, die von Initiative­n wie „Tulln hilft“organisier­t wurden. Zwar gab es auch strafrecht­lich relevante Delikte, zumeist wegen (auch schweren) Körperverl­etzungen und gefährlich­en Drohungen innerhalb der Quartiere, regelmäßig­e massive Polizeiein­sätze, wie von vielen befürchtet, blieben aber aus. Verunsiche­rung auf beiden Seiten. „Weswegen das Zusammenle­ben auch immer gut funktionie­rt hat“, sagt eine Lehrerin, die den Asylwerber­n ehrenamtli­ch Deutschunt­erricht gibt. Seit dem „Vorfall“aber spüre sie eine gewisse „Entfremdun­g“in der Bevölke-

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4 Claudia Schreiner Bürgermeis­ter Peter Eisenschen­k vor einem der fünf Flüchtling­squartiere in Tulln.

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