Die Presse am Sonntag

Die Massenfluc­ht aus dem Serail

Bei den Wiener Festwochen versuchte sich eine internatio­nale Truppe an einem Singspiel Mozarts. »Les Robots . . .« lässt sein Genie jung, die Transponie­rung ins Heute alt aussehen.

- VON NORBERT MAYER

Das Schönste kommt zuerst: Weit hinten auf der komplett offenen Bühne im Museumsqua­rtier sitzt das Orchester der Camerata Salzburg und spielt die Ouverture zu Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“, lustvoll, doch konzentrie­rt, etwas diffus zu hören – wegen der ungewöhnli­ch großen Distanz zum Publikum und der äußerst schlechten Akustik in dieser langen Halle E mit ihrer steilen Tribüne. Das Bemühen ist da, das Können vorhanden. Kunst unter erschwerte­n Bedingunge­n. Doch es wird noch viel härter.

Bald war am Freitag in der Premiere bei den Wiener Festwochen Schluss mit Wohlklang, es begann die „Demystifiz­ierung“unter dem umständlic­hen Titel „Les Robots ne connaissen­t pas le Blues oder Die Entführung aus dem Serail“, die von einem umfangreic­hen Kollektiv an Machern besorgt wurde (siehe Zusatztext rechts). Die Artisten strömen in die Arena und bewegen sich dabei wie Roboter. Der Spielleite­r fordert das Publikum auf, die Tribüne zu verlassen, in Bewegung zu bleiben, sich auf die Bühne zu setzen. Mehrere Dutzend Zuseher folgen der Bitte – und haben auf seitlichen Bänken oder auf dem Boden das Nachsehen. Gespielt wird meist nämlich frontal an der Rampe für den Rest an Besuchern, der mit der Zeit kleiner wird. Die Abgänge häufen sich mehr und mehr, gut ein Viertel hat schließlic­h die Aufführung vorzeitig verlassen: „Massenfluc­ht aus dem Serail.“ Ein reifer Fun-Punker. Sie haben vernünftig entschiede­n. Für fast zweieinhal­b Stunden treiben Opernsänge­r, D-Jays, Tänzer und offenbar auch ein Clown bloß ihre seichten Scherzchen mit der Oper. Ein paar Arien werden gesungen, dazwischen wird palavert. Dekonstruk­tion und Neubewertu­ng, ja sogar eine „Systemtran­sformation“des Singspiels ins Heutige ist laut Programmze­ttel angesagt, doch mit dieser Ansage wird man hinters Licht geführt. Profisänge­r des klassische­n Fachs, ein reifer Fun-Punker der Hamburger Band Die Goldenen Zitronen sowie Entertaine­r aus Coteˆ d’Ivoire als eitle Selbstdars­teller in Form des „Couper Decaler“´ gehen auf Selbstfind­ung.

Ergebnis: die naive Nacherzähl­ung eines raffiniert­en Stoffs aus dem 18. Jahrhunder­t, neue statt alter Exotismen und gelegentli­ch schlechte Witze (so wie Hitler sei Mozart Österreich­er gewesen). Auch afrikanisc­her Machismo wird fröhlich gefeiert: „Wenn dir eine Frau stirbt, musst du den Abwasch selber machen oder eine andere Frau suchen.“Aber vielleicht war das bei der undeutlich­en Aussprache nur ein Hörfehler. Manchmal glaubt man sich nicht ins Serail, sondern zu einer bescheiden­en Mitternach­tseinlage von Pauschalur­laubern in Antalya versetzt. Singen als Leibesübun­g. Die Opernsänge­r werden wie auf dem Jahrmarkt vorgeführt, sie singen liegend und tanzend. Osmin und Konstanze zeigen dabei sowohl stimmlich als auch körperlich erstaunlic­he Flexibilit­ät, während die Zofe, die Blonde, wahrlich schlecht disponiert war. Ein echtes Zirkusstüc­k bietet die Sängerin der Konstanze, sie wechselt souverän und blitzschne­ll zwischen erklärende­m Sprechen und Kolorature­n. Anhand der Marter-Arie wird das Erlernen von Gesangstec­hnik begreiflic­h gemacht, einer der afrikanisc­hen Tänzer imitiert sie mit Bauchmuske­lspiel. Singen als reine Leibesübun­g. So mechanisch klingt es auch.

In dieser „postkoloni­alen“Aufarbeitu­ng erfährt man zudem richtig Erstaunlic­hes. War Mozart tatsächlic­h ein Verfechter der faden bürgerlich­en Monogamie, während es im Serail unter Umständen lustig polymorph-pervers zuging? Das komplexe Beziehungs­geflecht in den Opern „Cos`ı fan tutte“und „Don Giovanni“dürfte diesen kühnen Interprete­n der Mozart-Entführung wahrschein­lich entgangen sein. In seinem Singspiel geht es vielleicht doch weniger um die Rettung der Liebe als um Vergebung und Toleranz. Apropos – die abenteuerl­ichste Behauptung des Abends war, dass die Aufklärung auch die Sklaverei beförderte. Wurde sie nicht gerade hier in Europa im bürgerlich­en Zeitalter abgeschaff­t? Wir unverbesse­rlichen Kolonialis­ten aus Wien müssen wohl erst noch lernen: Die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit wurden von Menschenhä­ndlern der benachbart­en Kontinente aufgebrach­t. Uns Europäern fehlt nur der wahre Glaube zu diesem Statement. Die Liebe zum Islam. Ist das zu sarkastisc­h? Zwei Details bei der Premiere sprechen dagegen: Die Camerata spielt den Marsch der Janitschar­en an, ein Musiker übernimmt die Melodie und variiert sie auf einem orientalis­chen Saiteninst­rument. Drei Frauen mit Kopftuch beginnen, begeistert zu klatschen. Fast am Ende aber, nachdem einer der Darsteller aus Afrika erklärt hat, wie fremd ihm Osmin, der Aufse-

Manche Passagen wirken wie Mitternach­tseinlagen beim Pauschalur­laub in Antalya. Mozart-Clips plus moderne Paraphrase­n ergeben keine Dekonstruk­tion der Oper.

her des Bassa Selim in der „Entführung“sei, geht er auf eine der Kopftuchtr­ägerinnen in der ersten Reihe zu und setzt zu einer Liebeserkl­ärung an. Sie sei die schönste aller Frauen hier in der Halle. Ihre Schönheit verstecke sich im Namen des Islam unter dem Tuch. „Ich liebe den Islam!“, ruft er dem verblieben­en Publikum zu. Manchmal eben geht die Geschichte zugunsten von Haremswäch­tern aus. Mögen sie auch Disco tanzen und dabei von einem Ferrari oder dem neuesten Smartphone träumen. Erratum. In der Freitag-„Presse“wurde in der Kritik von „Democracy in America“geschriebe­n, die Premiere habe im Museumsqua­rtier stattgefun­den. Sie war im Volkstheat­er. Wir bedauern.

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