Die Massenflucht aus dem Serail
Bei den Wiener Festwochen versuchte sich eine internationale Truppe an einem Singspiel Mozarts. »Les Robots . . .« lässt sein Genie jung, die Transponierung ins Heute alt aussehen.
Das Schönste kommt zuerst: Weit hinten auf der komplett offenen Bühne im Museumsquartier sitzt das Orchester der Camerata Salzburg und spielt die Ouverture zu Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“, lustvoll, doch konzentriert, etwas diffus zu hören – wegen der ungewöhnlich großen Distanz zum Publikum und der äußerst schlechten Akustik in dieser langen Halle E mit ihrer steilen Tribüne. Das Bemühen ist da, das Können vorhanden. Kunst unter erschwerten Bedingungen. Doch es wird noch viel härter.
Bald war am Freitag in der Premiere bei den Wiener Festwochen Schluss mit Wohlklang, es begann die „Demystifizierung“unter dem umständlichen Titel „Les Robots ne connaissent pas le Blues oder Die Entführung aus dem Serail“, die von einem umfangreichen Kollektiv an Machern besorgt wurde (siehe Zusatztext rechts). Die Artisten strömen in die Arena und bewegen sich dabei wie Roboter. Der Spielleiter fordert das Publikum auf, die Tribüne zu verlassen, in Bewegung zu bleiben, sich auf die Bühne zu setzen. Mehrere Dutzend Zuseher folgen der Bitte – und haben auf seitlichen Bänken oder auf dem Boden das Nachsehen. Gespielt wird meist nämlich frontal an der Rampe für den Rest an Besuchern, der mit der Zeit kleiner wird. Die Abgänge häufen sich mehr und mehr, gut ein Viertel hat schließlich die Aufführung vorzeitig verlassen: „Massenflucht aus dem Serail.“ Ein reifer Fun-Punker. Sie haben vernünftig entschieden. Für fast zweieinhalb Stunden treiben Opernsänger, D-Jays, Tänzer und offenbar auch ein Clown bloß ihre seichten Scherzchen mit der Oper. Ein paar Arien werden gesungen, dazwischen wird palavert. Dekonstruktion und Neubewertung, ja sogar eine „Systemtransformation“des Singspiels ins Heutige ist laut Programmzettel angesagt, doch mit dieser Ansage wird man hinters Licht geführt. Profisänger des klassischen Fachs, ein reifer Fun-Punker der Hamburger Band Die Goldenen Zitronen sowie Entertainer aus Coteˆ d’Ivoire als eitle Selbstdarsteller in Form des „Couper Decaler“´ gehen auf Selbstfindung.
Ergebnis: die naive Nacherzählung eines raffinierten Stoffs aus dem 18. Jahrhundert, neue statt alter Exotismen und gelegentlich schlechte Witze (so wie Hitler sei Mozart Österreicher gewesen). Auch afrikanischer Machismo wird fröhlich gefeiert: „Wenn dir eine Frau stirbt, musst du den Abwasch selber machen oder eine andere Frau suchen.“Aber vielleicht war das bei der undeutlichen Aussprache nur ein Hörfehler. Manchmal glaubt man sich nicht ins Serail, sondern zu einer bescheidenen Mitternachtseinlage von Pauschalurlaubern in Antalya versetzt. Singen als Leibesübung. Die Opernsänger werden wie auf dem Jahrmarkt vorgeführt, sie singen liegend und tanzend. Osmin und Konstanze zeigen dabei sowohl stimmlich als auch körperlich erstaunliche Flexibilität, während die Zofe, die Blonde, wahrlich schlecht disponiert war. Ein echtes Zirkusstück bietet die Sängerin der Konstanze, sie wechselt souverän und blitzschnell zwischen erklärendem Sprechen und Koloraturen. Anhand der Marter-Arie wird das Erlernen von Gesangstechnik begreiflich gemacht, einer der afrikanischen Tänzer imitiert sie mit Bauchmuskelspiel. Singen als reine Leibesübung. So mechanisch klingt es auch.
In dieser „postkolonialen“Aufarbeitung erfährt man zudem richtig Erstaunliches. War Mozart tatsächlich ein Verfechter der faden bürgerlichen Monogamie, während es im Serail unter Umständen lustig polymorph-pervers zuging? Das komplexe Beziehungsgeflecht in den Opern „Cos`ı fan tutte“und „Don Giovanni“dürfte diesen kühnen Interpreten der Mozart-Entführung wahrscheinlich entgangen sein. In seinem Singspiel geht es vielleicht doch weniger um die Rettung der Liebe als um Vergebung und Toleranz. Apropos – die abenteuerlichste Behauptung des Abends war, dass die Aufklärung auch die Sklaverei beförderte. Wurde sie nicht gerade hier in Europa im bürgerlichen Zeitalter abgeschafft? Wir unverbesserlichen Kolonialisten aus Wien müssen wohl erst noch lernen: Die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden von Menschenhändlern der benachbarten Kontinente aufgebracht. Uns Europäern fehlt nur der wahre Glaube zu diesem Statement. Die Liebe zum Islam. Ist das zu sarkastisch? Zwei Details bei der Premiere sprechen dagegen: Die Camerata spielt den Marsch der Janitscharen an, ein Musiker übernimmt die Melodie und variiert sie auf einem orientalischen Saiteninstrument. Drei Frauen mit Kopftuch beginnen, begeistert zu klatschen. Fast am Ende aber, nachdem einer der Darsteller aus Afrika erklärt hat, wie fremd ihm Osmin, der Aufse-
Manche Passagen wirken wie Mitternachtseinlagen beim Pauschalurlaub in Antalya. Mozart-Clips plus moderne Paraphrasen ergeben keine Dekonstruktion der Oper.
her des Bassa Selim in der „Entführung“sei, geht er auf eine der Kopftuchträgerinnen in der ersten Reihe zu und setzt zu einer Liebeserklärung an. Sie sei die schönste aller Frauen hier in der Halle. Ihre Schönheit verstecke sich im Namen des Islam unter dem Tuch. „Ich liebe den Islam!“, ruft er dem verbliebenen Publikum zu. Manchmal eben geht die Geschichte zugunsten von Haremswächtern aus. Mögen sie auch Disco tanzen und dabei von einem Ferrari oder dem neuesten Smartphone träumen. Erratum. In der Freitag-„Presse“wurde in der Kritik von „Democracy in America“geschrieben, die Premiere habe im Museumsquartier stattgefunden. Sie war im Volkstheater. Wir bedauern.