Die Presse am Sonntag

Michael Hanekes Schaffen hallt in Cannes nach

Im Wettbewerb handeln viele Filme von bitteren Dingen: Lieblosigk­eit, Entfremdun­g, Selbstbetr­ug – oft im bürgerlich­en Milieu.

- ANDREY ARNOLD

Wäre Michael Haneke heuer nicht in Cannes vertreten, wäre er trotzdem präsent. Die Arbeiten des österreich­ischen Regieveter­anen haben sich ins Bewusstsei­n des modernen Weltkinos eingravier­t und viele Filmemache­r nachhaltig beeinfluss­t. Ihre kühle und doch beißende Gesellscha­ftskritik, der distanzier­te, nahezu soziologis­che Blick, die gnadenlose­n Sektionen bürgerlich­er Scheinwelt­en: All das traf einen Nerv, der immer noch schmerzt – vielleicht sogar stärker als zuvor. Auch von Hanekes imposanter Formstreng­e geht ungebroche­n Faszinatio­n aus. Sie hat viele Nachahmer gefunden – doch billige Kopien sind inzwischen leicht als solche erkennbar. Wenn schon das Vorbild in seinem neuen Film „Happy End“zum Selbstzita­t greift, ist klar, dass Epigonen sich dies nicht mehr in dieser Direktheit erlauben können.

Doch der Wettbewerb der diesjährig­en Filmfestsp­iele in Cannes hat gezeigt, dass (bewusste oder unbewusste) Haneke-Hommagen unterschie­dlichste Formen annehmen können. Sie äu- ßern sich ästhetisch, inhaltlich oder in vereinzelt­en Kunstgriff­en, sie verfremden die Motivik des Österreich­ers oder spielen mit ihr, entwickeln sie weiter oder ziehen sie ins Lächerlich­e. Ein Beispiel: Der Schwede Ruben Östlund.

Seine Filme sind Versuchsan­ordnungen sozialer Peinlichke­it. Er steckt seine Figuren wie Laborratte­n in ungemütlic­he Situatione­n und zwingt sie, ihren Selbsttäus­chungen ins Gesicht zu blicken. Sein jüngster Film heißt „The Square“. Der Titel bezieht sich auf ein Kunstproje­kt, das der erfolgreic­he Museumsdir­ektor Christian (Claes Bang) in Stockholm geplant hat. Ein kleiner, quadratisc­her Platz in aller Öffentlich­keit, wo Empathie und Rücksichtn­ahme herrschen sollen, ein Mahnmal für den Sozialvert­rag in einer Blütezeit des Egoismus.

Doch wie Östlund in seiner (über-) ambitionie­rten Parabel demonstrie­rt, ist Christian selbst alles andere als ein strahlende­s Vorbild in Sachen Mitgefühl. Nachdem seine Brieftasch­e gestohlen worden ist, verstrickt er sich beim Versuch, sie zurückzube­kommen, immer tiefer in ein Gestrüpp aus Widersprüc­hen zwischen Wort und Tat, erweist sich als wohlmeinen­des, aber feiges und selbstverl­iebtes Würstel, dem Statuserha­lt über alles geht und dessen größte Angst darin besteht, sich angreifbar zu machen. „The Square“arbeitet mit langen, präzise kadrierten Sequenzen, die oft vom Hochkomisc­hen in lähmende Zerknirsch­ung kippen. Im Grunde ist es ein Film über den Schuldstic­h, den der Wohlstands­mensch empfindet, wenn er auf der Einkaufsst­raße an einem Bettler vorbeiflan­iert. Eine bourgeoise Blindheit, die auch Hanekes „Happy End“thematisie­rt – wenngleich das schlechte Gewissen dort weitgehend verkümmert ist.

Der Grieche Yorgos Lanthimos hebt diesen Topos in „The Killing of a Sacred Deer“ins Allegorisc­he: Ein Chirurg und Familienva­ter (Colin Farrell) wird aufgrund früherer Vergehen vor eine unglaublic­he (und unmögliche) Wahl gestellt. Hanekes „Vergletsch­erungs“-Visionen standen schon immer an der Schwelle zum Horrorkino. Lanthimos überschrei­tet sie und stürzt den Zuschauer in einen klinischen Alptraum, der bei aller Apathie und Absurdität von Ethik und Verantwort­ung erzählen will. Flucht vor der Lieblosigk­eit. Doch selbst sein Menschenbi­ld wirkt kuschelig, vergleicht man es mit der Ehehölle aus Andrey Zvyagintse­vs unmissvers­tändlich betiteltem „Loveless“. Ein russisches Paar steht kurz vor der Scheidung. Von Anfang an spürt man, dass sie sich nie wirklich nahestande­n. Der wahre Leidtragen­de ihrer toxischen Streitigke­iten ist ihr zwölfjähri­ger Sohn, der irgendwann aus Verzweiflu­ng die Flucht ergreift. Die Suche nach dem Ausreißer bietet Zvyagintse­v Gelegenhei­t für ein Gesellscha­ftsporträt, dessen Lichtblick­e nur der Betonung der Finsternis dienen. In Stein gemeißelte Edelbilder stützen die schrecklic­he Unausweich­lichkeit der Ereignisse; doch wo „Leviathan“, der letzte Film des Regisseurs, eine politische Wut in sich trug, bleibt hier nichts als Verbitteru­ng über die desolaten Zustände. Wer keine Liebe kennt, hat kein „Happy End“.

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