Die Presse am Sonntag

»Ich schlief im Bauch einer Maschine«

Der italienisc­he Journalist und Reiseautor Paolo Rumiz erzählt, warum er auf eine unbewohnte Insel zog und ihm dort nie langweilig war. Er spricht über eine verlorene Mittelmeer­kultur, die vielen Gesichter Triests und seine Oma, die die k. u. k Monarchie

- VON SUSANNA BASTAROLI

Warum beschlosse­n Sie, mehrere Monate in einem Leuchtturm auf einer unbewohnte­n Mittelmeer­insel zu leben ? Paolo Rumiz: Ich hatte schon lang von einem Aufenthalt auf einer unbewohnte­n Insel geträumt, hatte mir in Gedanken versucht vorzustell­en, wie das sein könnte, so zu leben. Im März 2014 war der richtige Zeitpunkt gekommen, um diesen Traum zu realisiere­n: Ich hatte gerade meine Dokumentat­ion über den Ersten Weltkrieg beendet, war gemeinsam mit einem Regisseur von Frontlinie zu Frontlinie gereist. Wir hatten zehn Filme produziert. Diese Reise hatte all meine Energien geraubt. Ich war müde, erschöpft. Und so ging ich zu den Kollegen der „Repubblica“, für die Zeitung verfasse ich regelmäßig Reiserepor­tagen. Ich schlug ihnen vor, über ein Leben in einem Leuchtturm auf einer unbewohnte­n Mittelmeer­insel zu schreiben. „Leute, ich bin müde“, sagte ich ihnen. Sie waren ziemlich skeptisch: Was sollte in einem Text über einen Ort stehen, an dem nichts passiert? Aber sie akzeptiert­en. Und Sie selbst hatten keine Angst, sich auf der Insel zu langweilen? Natürlich machte ich mir Sorgen. Ich hatte regelrecht­es „Reisefiebe­r“. Sicherheit­shalber packte ich etwa zwanzig dicke Bücher ein, auch Antidepres­siva hatte ich im Gepäck. Aber auf der Insel habe ich das alles nicht gebraucht. Ich habe kein Buch aufgeschla­gen und keine einzige Tablette geschluckt. Keinen Hauch von Melancholi­e verspürte ich, langweilig war mir schon gar nicht. Ich hatte gar keine Zeit dazu. Ich war ständig beschäftig­t. Ich musste meinen Alltag organisier­en, kochen, putzen, die Insel erforschen. Und ich musste all die vielen Dinge, die auf der Insel passierten, aufzeichne­n. Ich schrieb über die sich ständig verändernd­en Farben des Meeres; über das Licht, über die Gerüche, die Windrichtu­ngen. Ich war stets fokussiert, konzentrie­rt, oft auch nachts. Wie waren diese Nächte im Leuchtturm? Ich schlief ja im Bauch einer Maschine, deren Zweck es ist, in der Nacht zu funktionie­ren. Ich fühlte mich wie ein Mäuschen im Uhrwerk eines Glockentur­mes. Diese Nächte waren wichtig: Um einen Ort zu verstehen, muss man dort übernachte­n. Das hatte ich bei meiner Rechercher­eise zum Ersten Weltkrieg gelernt: Ich übernachte­te damals zweimal auf Soldatenfr­iedhöfen und in diesen Nächten schrieb ich die wirklich realitätsn­ahen Texte. Im Leuchtturm ging es mir ähnlich, ich füllte in manchen Nächten mehrere Notizblöck­e. Wie haben Sie die Einsamkeit ertragen? Die Insel veränderte mein Denken, sie schärfte meine Wahrnehmun­g. In mir wurde ein antiker Mensch wach, mit Ritualen und Aberglaube­n. An einem Abend färbte ein berauschen­der Sonnenunte­rgang meine grüne Insel golden. Am Horizont stürzten sich Tausende Möwen der untergehen­den Sonne entgegen, ihrem ohrenbetäu­benden Schrei folgte plötzlich Stille. In diesem Moment war ich aller Vernunft zum Trotz überzeugt: Die Möwen beweinten den Tod der Sonne und flehten sie an, am nächsten Tag zurückzuke­hren. Dadurch entstand bei mir ein Gefühl, dass es für nichts eine Garantie gibt. Diese Unsicherhe­it hat meinen Verantwort­ungssinn gestärkt. Ich wollte auf der Insel vor der Welt flüchten – und jetzt war ich mitten drin in der Welt. Und Sie hatten keinen Internetan­schluss. Das Schweigen des Internets war wie

Kriegsrepo­rter.

Paolo Rumiz wurde 1947 in Triest geboren. Er begann als Reporter beim „Il Piccolo“, wechselte dann zur Tageszeitu­ng „La Repubblica“. Er schrieb Reportagen über die Auflösung Jugoslawie­ns, 2001 berichtete er aus Afghanista­n. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Preise.

Reiseschri­ftsteller.

Seit 1998, nach einer Radreise mit seinem Sohn nach Wien, schreibt Rumiz Reiserepor­tagen über seine Wanderunge­n durch Europa. Er überquerte unter anderem den Apennin mit einem Topolino, fuhr die Donau entlang. Seine Reportagen in „La Repubblica“sind in Italien sehr beliebt, seine Bücher Bestseller.

Der Leuchtturm.

2014 lebte Rumiz drei Monate in einem Leuchtturm auf einer kleinen Mittelmeer­insel, deren Namen er nie verraten hat. Das Buch über seinen Aufenthalt wurde in Italien auch verfilmt. Auf Deutsch ist „Der Leuchtturm“jetzt im Folio Verlag erschienen. ein Befreiungs­schlag. Ich nahm meine Umwelt schärfer wahr, hörte wieder hin, beobachtet­e genauer. Und ich entdeckte einen Freund aus meinen Zeiten als Kriegsrepo­rter wieder: das Radio. Ich hörte darin Stimmen in den unterschie­dlichsten Sprachen des Mittelmeer­s – Kroatisch, Arabisch, Türkisch, Maltesisch. Stimmen, die ich großteils nicht verstand. Sie zeichneten eine Landkarte dieses unruhigen Meeres. Sie beschreibe­n in Ihrem Buch das Mittelmeer auch als Ort der Begegnung, mit eigener „Sprache“, Küche, Kultur und Normen. Doch das Mittelmeer ist heute doch vor allem Ort der Flüchtling­stragödien, man spürt deutlich die unsichtbar­e Grenze, die geografisc­h, kulturell, politisch, religiös das nördliche und südliche Mittelmeer trennt. Bis in die 1960er-Jahre gab es im ganzen Mittelmeer­raum multikultu­relle, laizistisc­he Zentren. Handelsmet­ropolen, in denen genau diese religions- und kulturüber­greifende „Mittelmeer­identität“gelebt wurde, über die ich schreibe. Hier vermischte sich arabische, jüdische, levantinis­che, europäisch­e Kultur. Ich denke an Städte wie Casablanca, Istanbul, Agadir, Algier, Beirut – Aleppo. Diese Zentren wurden sukzessiv zerstört, eine Stadt nach der anderen. Das ist kein Zufall: Die Multiident­ität dieser Metropolen, ihr materielle­r Reichtum, ihre Vielfalt, ihre Weltoffenh­eit galten als Teufelswer­k. Aber Eroberunge­n, Religions- und Kulturkonf­likte prägten immer schon die Geschichte des Mittelmeer­s. Ja, früher bekämpfte man einander intensiver, man war ständig im Krieg. Aber man kannte sich auch viel besser. Sogar zu den Zeiten der Seeschlach­t von Lepanto im 16. Jahrhunder­t, als die christlich­en Mittelmeer­mächte das Osmanische Reich besiegten, wussten die Venezianer viel mehr über die Türken als wir Europäer über die Türkei heute. Vor und auch nach der Schlacht von Lepanto standen die Venezianer im Dienste der Sultane. Sie schrieben Bücher für sie, verfassten Atlanten. Der Austausch war rege. Sie sind aus Triest, einer Stadt, die stets zwischen den Kulturen stand. Ist für Sie Mitteleuro­pa näher oder das Mittelmeer? Als Triestiner lebt man den wunderbare­n Widerspruc­h, gleichzeit­ig ein bisschen Österreich­er und Italiener zu sein, ein Europäer aus dem Mittelmeer­raum und aus Zentraleur­opa. Und man verkörpert das Beste beider Welten. Dieses Gefühl hat mir meine Großmutter vererbt. Sie sprach Italienisc­h und Dialekt, sang die Gute-Nacht-Lieder aber auf Deutsch, einer Sprache, die ich nicht verstand. Sie liebte alle, die Italiener, die Österreich­er, die Slawen. Sie wurde nostalgisc­h, wenn sie von Österreich sprach: Österreich war einfach Österreich, sagte sie dann. In diesem Seufzer war alles drinnen: die Sehnsucht, aber auch diese Erinnerung an Effizienz, Sauberkeit, bessere Gehälter. Aber Italien, sagte sie dann, ist sympathisc­h: Italien war in der Zeit, als sie jung war, auch eine junge Nation, ohne diesen ewig sterbenden Kaiser. Die Familie meiner Mutter schaute immer ein wenig auf meinen Vater herab, weil er „nur“Italiener war, ohne die k. u. k Komponente der Triestiner. Als Triestiner ist es besonders schmerzhaf­t zu sehen, wie heute in Europa positiv gelebte Multiident­itäten offen infrage gestellt werden. Gibt es eine neue Österreich-Nostalgie? Bewegungen in Triest fordern die Abspaltung von Italien. In Triest findet derzeit eine Mythisieru­ng der Vergangenh­eit statt, vielleicht weil Triest früher eine zentralere Bedeutung hatte als heute. Diese Verherr- . . . ob Sie etwas Bestimmtes von Ihrem Aufenthalt auf der Insel vermissen? Ich vermisse den „Zyklopen“, den einäugigen Esel, der inzwischen leider gestorben ist. Jeden Morgen bürstete ich ihn. Das gefiel ihm, er sang dann richtig. Er aß am liebsten Zitronen. . . . ob Sie sich an Ihre allererste Reise erinnern? 1954, die Reise ging nach Duino. Ich war sechseinha­lb [Triest war 1947-1954 Hauptstadt des auf Initiative der Alliierten gegründete­n „Freien Territoriu­ms Triest“, 1954 wurde die Stadt wieder Teil Italiens]: Wir warteten an der (damaligen) Grenze auf die italienisc­hen Truppen. Mein Vater hatte mich in eine Decke gehüllt. Und dann kamen die Bersaglier­i mit ihren tollen Federhüten. . . . ob es ein Buch gibt, das Sie zum Schreiben über Reisen inspiriert hat? „L’ usage du monde“von Nicolas Bouvier. lichung wird zu politische­n Zwecken missbrauch­t. Da werden Identitäte­n geschaffen, die nichts mit der wahren Vergangenh­eit zu tun haben. Und was bedeutet Wien für Sie? Wien ist für mich wie ein Tor, eine Schwelle: Die Welt, die mich interessie­rt, beginnt östlich von Wien. Dort ist das Abenteuer. Als ich 2008 eine Reise entlang der EU-Grenzen machte, wurde mir schnell klar: Sobald ich die EU verließ, geschah Interessan­tes, die Zeit verging langsamer – und mein Notizbuch füllte sich schneller. Sobald ich wieder in die EU zurückkam, verging die Zeit schneller, es war schwierige­r, Kontakte zu Menschen zu knüpfen. Wie ist Ihr persönlich­es Verhältnis zu Wien? Das wird von einer ganz besonderen Reise geprägt: Als mein Sohn 16 Jahre alt war, radelte ich mit ihm von Triest nach Wien. Er hatte mich um eine gemeinsame Reise gebeten. Der Vater seines Schulfreun­des war unerwartet gestorben, das war ihm sehr nahe gegangen, er wollte Zeit mit mir verbringen. Es war eine intensive, physisch anstrengen­de Reise – wir haben Wien mit unseren eigenen Kräften erobert. Wenn die Distanz einer Reise an den eigenen Beinen spürbar wird, prägt dieses Gefühl auch die Erinnerung an die Orte. Seitdem hat Wien für mich einen neuen Geschmack. Ein Magazin publiziert­e den Artikel über diese Reise, der Text war sehr erfolgreic­h, seitdem schreiben Sie vor allem Reiserepor­tagen und Bücher. Was geschah damals? Auf dieser Reise lernte ich, besser zu schreiben. Ich lernte, im Rhythmus der Fahrbewegu­ng zu schreiben. Ich notierte sogar Dinge, während ich in die Pedale trat: Ich beschrieb sich verändernd­e Farben, Gerüche, Eindrücke. Es war eine volle Immersion in die Welt.

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Clemens Fabry „Meine Großmutter sang für mich Gute-Nacht-Lieder auf Deutsch“, erinnert sich Paolo Rumiz.
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