Der alte Mann und das Mehr
Labour-Chef Jeremy Corbyn verspürt überraschenden Rückenwind im Wahlkampf. Für den Sieg wird es wohl nicht reichen.
Wenn es einen Menschen in Großbritannien gibt, der über den Höhenflug der Labour Party nicht überrascht zu sein scheint, dann ist das Oppositionsführer Jeremy Corbyn: „Wir sind eine mächtige Bewegung“, verkündet er dieser Tage unablässig. Unter dem von den Medien entweder abgeschriebenen oder bekämpften Parteichef wurde Labour mit aktuell 517.000 Mitgliedern die mit Abstand größte Partei des Landes – zum Vergleich: Die regierenden Tories haben 140.000 Mitglieder.
Im Wahlkampf macht das einen Unterschied. Labour gelingt an der Basis eine Mobilisierung, wie sie wohl niemand für möglich gehalten hätte. „Trotz aller technischen und elektronischen Mittel kann nichts den direkten Kontakt mit dem Wähler ersetzen“, sagt etwa Wahlorganisator George Hutchison. Und Corbyn schneidet dabei unerwartet gut ab. Unerwartet, weil in der Partei seit seiner Kür im September 2015 permanentes Chaos herrscht. Die Parlamentsfraktion befindet sich in offener Revolte gegen den Parteichef, dessen Positionen als utopisch und unausgegoren kritisiert werden. Corbyn, der 30 Jahre als Parteirebell gegen die ei- „Nackt und allein“: Die Konservativen reagieren auf Corbyns Höhenflug mit Spott und Hohn. gene Führung gestimmt und dezidierte Außenseiterpositionen eingenommen hatte, hat ein ernstes Problem, nun Loyalität einzufordern.
Zudem hat Labour in zentralen Fragen wie dem Brexit oder der Einwanderung bis heute keine klare Position. Der Spagat zwischen der liberalen urbanen Elite und von Populisten umgarnten
Der Spagat zwischen Elite und traditionellen Wählern droht die Partei zu zerreißen.
traditionellen Wählern zerreißt die Partei beinahe. Corbyn hat nichts getan, um diesen Riss zu heilen. In der Auseinandersetzung im Parlament mit Theresa May ist es ihm kaum jemals gelungen, der Premierministerin Paroli zu bieten. Von den Meinungsmachern wurde der 68-Jährige vom ersten Tag an abgeschrieben. Lichtgestalt. Ganz anders aber sieht es an der Basis aus. Für die Bewegung „Momentum“ist Corbyn ein Star. Die Gruppierung ist überparteilich, aber in ihren Positionen dezidiert links und sie mobilisiert für ihn. Hier erscheint Corbyn nicht als etwas schrulliger Alt-Linker mit dem Charisma eines pensionierten Lehrers, sondern als Lichtgestalt. Dennoch wird er die Wahl nicht gewinnen. Trotz des Aufschwungs von Labour in den Umfragen wollen nur 30 Prozent der Briten Corbyn als Premierminister. Die Konservativen spitzen die Auseinandersetzung in den letzten Tagen gnadenlos darauf zu. „Nackt und allein“würde Corbyn auf der Weltbühne stehen, erklärte May, worauf er erwiderte: „Ich darf daran erinnern, dass im Team der Tories Politiker stehen, die im Brexit-Referendum die Wähler direkt angelogen haben“. Die feinere Klinge führt dieser Tage der Labour-Chef.