Die Presse am Sonntag

Das große Wandern: Wer zieht des Geldes wegen nach Wien?

Die großen Kürzungen der Mindestsic­herungen in manchen Bundesländ­ern haben den Zuzug von Flüchtling­en nach Wien noch verstärkt. Doch höhere Sozialleis­tungen sind nicht der einzige Grund, warum Syrer, Afghanen und Iraker in der Bundeshaup­tstadt leben wolle

- VON EVA WINROITHER UND ANNA THALHAMMER

Amenas Vorstellun­g von Wien hatte sie aus kitschigen SisiFilmen: Wien, die Stadt der Musik, Wien, die Stadt der epochalen Bauten mit dem Charme der Monarchie. Zwar war ihr erster Eindruck von Wien im Herbst 2015 der des Flüchtling­sheims in Wien-Erdberg. Aber sie und ihr damals erst drei Monate alter Sohn machten Ausflüge in die Innenstadt: „Wien ist wirklich genauso schön, wie ich es mir dachte.“

Heute lebt Amena mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung in Steyr in Oberösterr­eich, wo sie zur Abwicklung des Asylverfah­rens hingebrach­t wurde – ihr Mann Mohammed kam im Dezember 2016 nach. Die 26-Jährige spricht mittlerwei­le fließend Deutsch, die Familie hat viele Freunde. Dennoch kann sie Wien nicht vergessen.

Ihr Bruder Tawfeek, der mit ihnen geflohen ist, wohnt mittlerwei­le dort – und auch viele Bekannte. „Alle, die allein sind, gehen nach Wien“, sagt sie. „Ich denke immer wieder darüber nach. Aber mit einer Familie ist es komplizier­ter: Man braucht eine größere Wohnung, die viel kostet, du musst einen Makler bezahlen“, sagt sie. Amena sucht Arbeit, noch lebt sie von der Mindestsic­herung und verdient sich ein Taschengel­d als Dolmetsche­rin bei der Volkshilfe dazu. Insgesamt hat die dreiköpfig­e Familie 1500 Euro zur Verfügung. „Manche gehen auch nach Wien, weil sie dort mehr Geld bekommen.“

Vor knapp einem Jahr kürzte Oberösterr­eich die Mindestsic­herung für Flüchtling­e – weitere Verschärfu­ngen sind geplant. Auch Niederöste­rreich deckelte die Kosten für Familien und kürzte den Betrag auf 572 Euro pro Person – rückwirken­d. Das alarmierte die rot-grüne Stadtregie­rung in Wien. Wenn die Bundesländ­er kürzen, wird sich die Sogwirkung Wiens auf Flüchtling­e noch verstärken, so die Angst. Ohnehin sind die Kosten für die Mindestsic­herung in der Bundeshaup­tstadt seit Anfang 2016 explodiert – 130 Millio- nen Euro mussten zugeschoss­en werden. Selbst schuld, heißt es aus den von der ÖVP-regierten Bundesländ­ern – ohne Reform werde Wien eben überrannt. Trotzdem weigerte sich die rotgrüne Regierung bisher, Kürzungen vorzunehme­n, ein neues Paket wird derzeit verhandelt (siehe rechts). Doch ziehen wirklich so viele Flüchtling­e wegen der besseren Sozialleis­tungen nach Wien? Wie viele kommen wirklich? Die Statistik. Gleich vorweg: Die Kürzungen haben tatsächlic­h einen zusätzlich­en Zuzug ausgelöst. Das zeigen Zahlen aus dem Büro der zuständige­n SPÖ-Stadträtin Sandra Frauenberg­er: Im März 2016 erhielten in Wien 141.463 Personen bedarfsori­entierte Mindestsic­herung (BMS), ein Jahr später waren es schon 152.814 – das ist ein Anstieg von 11.000 Menschen in einem Jahr (+7,8 Prozent). Dieser ist fast zur Gänze auf Asylwerber und subsidiär Schutzbere­chtigte zurückzufü­hren. Diese machen derzeit mit 41.464 Personen mehr als ein Viertel aller Mindestsic­herungsbez­ieher in Wien aus. Im Jahr davor waren es noch ein Fünftel (29.822).

Der Anstieg ist zu mehr als Zweidritte­l tatsächlic­h dem Zuzug aus den Bundesländ­ern geschuldet. Innerhalb von zwölf Monaten (März 2016 bis März 2017) zogen insgesamt 8168 Mindestsic­herungsbez­ieher aus anderen Bundesländ­ern in die Hauptstadt. Rund 90 Prozent davon waren Flüchtling­e. Das sind rund 19 Prozent mehr als im Vergleichs­zeitraum des Vorjahres. Aus den Bundesländ­ern mit gekürzter BMS kamen besonders viele: Der Zuzug aus Niederöste­rreich stieg seit März 2016 um 40 Prozent, der aus Oberösterr­eich sogar um 53 Prozent. Die niederöste­rreichisch­e Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) jubiliert deswegen schon. Erstmals seit Jahren gebe es einen Rückgang bei den BMS-Beziehern, sagte sie am Freitag. Allein von März auf April seien es 1100 weniger geworden.

Aber sind bessere Sozialleis­tungen tatsächlic­h der Hauptgrund, warum Syrer, Afghanen, Iraker und Afrikaner in die Bundeshaup­tstadt drängen? Glaubt man einer unveröffen­tlichten Studie des Außenminis­teriums, die der „Presse am Sonntag“vorliegt: Nein.

58 Asylwerber und Schutzbere­chtigte aus Syrien, Afghanista­n und dem Irak wurden dafür nach ihrer Motivation für die österreich­ische Binnenmigr­ation Richtung Wien befragt, die Studie ist damit nicht repräsenta­tiv, gibt aber Trends wieder. Das Ergebnis: Grund Nummer eins für den Umzug ist die Hoffnung auf bessere Chancen für einen Deutschkur­s – das gaben 54 Prozent an. Eine Arbeit zu finden kam auf Platz zwei (32 Prozent), eine Ausbildung zu machen auf Platz drei (19 Prozent). Erst auf Platz sieben des Motivation­s-Rankings kommen die besseren Sozialleis­tungen im Vergleich zu anderen Bundesländ­ern. Allerdings wurden die Interviews zu einem Teil durchgefüh­rt, als die Kürzungen in Niederöste­rreich etwa noch nicht in Kraft waren. Der Faktor Mindestsic­herung sei als Katalysato­r nicht zu unterschät­zen, heißt es auch in der Studie. Ruhe vor dem Sturm? Spricht man mit den Betroffene­n und ihren Betreuern selbst, dann sind die gekürzten Sozialleis­tungen nämlich sehr wohl ein großes Thema. Kamiran Rashid (34) ist Soziologe, Familienva­ter, geflohen aus Aleppo und übersetzt ehrenamtli­ch für die Caritas Oberösterr­eich bei Bera- tungsgespr­ächen. Er weiß aus den Gesprächen, dass viele seiner Landsleute, zwar noch nicht in andere Bundesländ­er gegangen sind, aber überlegen, es zu tun. Dabei ist nicht nur Wien in der engeren Auswahl, sondern auch Salzburg oder Tirol (wo die BMS in einem geringeren Ausmaß reformiert wird). „Sie machen einen Vergleich zwischen den Bundesländ­ern und schauen, wo es für sie am besten ist“, erklärt Rashid.

Mit dem Geld, das neue BMS-Bezieher bekommen, sei es in Oberösterr­eich schwer zu überleben, argumentie­rt er. Hat ein Asylberech­tigter (ohne Kinder) erst nach dem 1. 7. 2016 um BMS angesucht, bekommt er nur mehr 520 Euro pro Monat. „Eine Ein-Zimmer-Wohnung kostet aber mindestens 400 Euro – dazu kommen Maklerprov­ision und Kaution. Da wollen die wenigsten bleiben.“

Bei der Volkshilfe in Oberösterr­eich, die nach eigenen Angaben rund 40 Prozent aller Flüchtling­e in dem Bundesland betreut, ärgert man sich deshalb, dass Flüchtling­e erst Zugang zum geförderte­n Wohnbau haben, wenn sie ein paar Jahre da sind und ins Sozialsyst­em eingezahlt haben. „Gerade am Land haben wir aber ein paar hundert geförderte Wohnungen, die leer stehen“, kritisiert Geschäftsf­ührer Christian Schörkhube­r. Nach der großen Flüchtling­swelle 2015 habe man in Oberösterr­eich Angst gehabt, dass Menschen durch Platznot obdachlos werden könnten. „Aber das tritt nicht ein, weil sollten sie davon bedroht sein, verschwind­en sei einfach nach Wien.“

Tendenz steigend, weil die Abarbeitun­g der Asylverfah­ren rasant vor sich geht. „Wir hatten in den ersten vier Monaten 2017 um 12.000 mehr erledigte Fälle als neue Asylanträg­e gehabt“, sagt Schörkhube­r. Sobald die Menschen einen positiven Aufenthalt­sstatus haben, suchen sie sich selbst aus, wo sie leben wollen. Denn eine Residenzpf­licht, wie es sie in Schweden gibt und wie sie auch in Österreich gefordert wurde, wurde von der ÖVP auf Bundeseben­e im Vorjahr verhindert. Dabei suchen schon jetzt mehr als 60 Prozent der anerkannte­n Flüchtling­e in Wien einen Job. Während das AMS Wien

Seit einem Jahr bekommen Asylberech­tigte in Oberösterr­eich weniger Geld.

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Amena (26) flüchtete im Sommer 2015 mit ihrem damals zwei Monate alten Buben Taleb aus Syrien.
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