Ung des Lächelns
lichkeit nur verstehen, wenn man auch über die Entwicklung der Zahnmedizin Bescheid weiß. Zahnpflege und Mundhygiene waren zuvor fremd, die Versorgung durch Ärzte erbärmlich. Dafür war der Zucker-, Schokolade- und Tabakkonsum hoch, die exotischen Kolonialwaren wurden auch vom einfachen Volk konsumiert. Zahnlosigkeit ab 40 war ein Faktum, Zahnschmerzen das Übel des Jahrhunderts. Die Porträts von Ludwig XIV. zeigen ihn mit zusammengepresstem, offensichtlich zahnlosem Mund. Mit dem Verlust der Zähne schwand auch das gute Aussehen, ein Problem für die Porträtmaler, das Gesicht war durch den schlechten Zustand des Mundes oft entstellt. Zahnweh, das Übel des Jahrhunderts. Im Paris des 18. Jahrhunderts traten zum ersten Mal in der Geschichte des Westens Zahnheilkundige, man nannte die Fachleute „dentistes“, an die Stelle der früheren Wanderscharlatane mit ihrem Horuck-Extraktionismus. Der Berufsstand war eine Reaktion auf die neue Nachfrage nach dem „weißen Lächeln“. Wer es sich leisten konnte und das Bedürfnis nach gesunden, weißen Zähnen anstelle eines schlecht riechenden, scheußlich schwarzen Lochs als Mund hatte, ging zu ihnen. Manchmal behandelten sie auch Mittellose. Ein Teil von Paris konnte nun schön und natürlich lächeln, während der Hof in Versailles weiterhin den verdrossenen, emotionslosen Gesichtskodex der Bourbonen imitierte.
Viele, die aufgehört hatten, sich an Gesprächen zu beteiligen, weil man sie nicht mehr verstanden hatte, gewannen nun ihre Artikulationsfähigkeit zurück. Maria Theresia ließ die Zähne ihrer Tochter Marie Antoinette von einem französischen Zahnarzt regulieren, bevor sie sie verheiratete. Casanova brauchte eine Zahnprothese, um wieder bei den Frauen zu punkten. Zwei Jahre danach war Paris die Stadt des Lächelns und der ansteckenden guten Laune, die Stadt der Revolution. „Das Lächeln und die Freudentränen, mit denen die politische Revolution von 1789 in Paris begrüßt wurde, erschienen wie eine nachdrückliche Bestätigung der gleichzeitig stattfindenden Revolution des Lächelns“, so Colin Jones.
Die zweite Entwicklung nach der Zahnmedizin, die die Einstellung zum Lächeln zu verändern begann, war die Erfindung der Fotografie um 1840. Doch es dauerte eine Weile, bis das Lächeln in der Porträtfotografie seinen Siegeszug antrat und sich schließlich im 20. Jahrhundert als der beherrschende Gesichtsausdruck etablierte. Die Menschen waren sich anfangs einfach zu unsicher, wie sie schauen sollten. Der Dichter Lewis Carroll, selbst ein Amateurfotograf, beschrieb einmal, wie die Mitglieder einer viktorianischen Familie für eine Fotoserie Modell saßen und aus Angst vor Blamage alles verdarben. Die Belichtungszeiten waren enorm lang – wer kann so lange lächeln, ohne gequält zu wirken oder gar in ein Grimassieren zu verfallen? So entstand um 1910 in englischen Privatschulen zum ersten Mal die Sitte, „cheese“zu sagen.
Als dieses Problem beseitigt war, löste sich das Lächeln endgültig aus der Privatsphäre und wurde zum universalen Symbol für Gesundheit und Glück, natürlich auch Vorbote eines entspannten Verhältnisses zu Sex und erotischem Begehren. In der totalitären Kunst des 20. Jahrhunderts wurden junge Revolutionshelden ausnahmslos mit strahlendem Lächeln dargestellt, Maos Rote Garden wirken heute lächerlich, es ist alles zu dick aufgetragen, der Höhepunkt des Lächelns wurde zur Sackgasse. Grotesk, dass sich dies in Regimen wie in Nordkorea bis heute gehalten hat. Dann sehnt man sich zurück nach dem grundehrlichen Lächeln der Babys, das uns entzückt. Das war 1787 noch ein Skandalbild: das allzu offene Lächeln einer Frau.
Auch in der Fotografie dauerte der Siegeszug des Lächelns lang.