Die Presse am Sonntag

RUTHI LANGOTSKY

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einer Freundin, „so schnell – er flog mehr, als dass er lief“. Im Radio hörten sie, dass die jordanisch­en Truppen rasch bis Armon Hanaziv vorrückten. „Das war kaum fünf Minuten Fußweg von uns entfernt.“Die beiden Freundinne­n steckten ihre Kinder unter ein Bett und schoben das Klavier davor.

In der Altstadt fielen die ersten Schüsse gegen elf Uhr. Burkan und seine Freunde räumten einen Stall aus, richteten ein provisoris­ches Lazarett ein, zerrissen Laken, brachten Wassereime­r und warteten ab, bis es Nacht wurde. Die Leute hatten auf Befehl der Jordanier ihre Wohnungen verdunkelt. „Es war stockfinst­er“, erinnert er sich. Zusammen mit einem der jordanisch­en Polizeikom­mandanten zog er los, um in den Gassen nach Verletzten zu suchen. „Plötzlich war eine Leuchtbomb­e über uns. Die Juden waren schon bis zum Löwentor vorgedrung­en. Wir hörten bum bum, aber Verletzte kamen nicht zu uns.“

Die israelisch­e Brigade drängte im Grenzberei­ch zwischen Ost- und Westjerusa­lem die jordanisch­en Truppen zurück. Auch die Fallschirm­springertr­uppe von Jakob Eylam, soviel wusste seine Frau, war nach Jerusalem verlegt worden. 50 Jahre später fischt sie eine vergilbte Postkarte aus einer Plastikhül­le und beginnt zu lesen. „Wenn ich nur wüsste, dass dies der letzte Krieg ist.“Sie liest langsam, kämpft mit den Tränen. „So sehr wünsche ich mir, Euch noch einmal wiederzuse­hen. Ob mir das gelingen wird?“Es ist der letzte Gruß, den Ruthi von ihrem Mann erreichen sollte. „Als hätte er gewusst, was passieren würde“, sagt sie und liest weiter: „Alles in mir wehrt sich gegen diesen sinnlosen Krieg“, der nichts verändern werde. „Unsere Feinde sind nicht die Bösen.“

Am vierten Tag des Krieges hörten die Gefechte in Jerusalem auf, Israels Truppen zogen weiter in Richtung Norden. Die Kämpfe gegen die syrische Armee dauerten bis zum letzten Kriegstag an. Ruthi Eylam hatte nichts mehr von Jakob gehört. Sie ahnte nichts Böses, ging zum Markt, um einzukaufe­n und wartete auf ihren Mann. „Ich kochte für ihn.“ Euphorie in Israel. Wie genau Jakob Eylam gefallen ist, hat seine Frau nie erfahren. „Sie wissen es“, sagt sie, aber seine Kameraden haben sie schonen wollen. „Es wäre besser gewesen, sie hätten mir alles erzählt.“Er gehörte zu den Sanitätern. Seine Frau vermutet, dass er Verletzte bergen wollte. Das Kommando war mit einem Jeep unterwegs in Richtung Ölberg. „Mein Mann war Pazifist“, ist Ruthi überzeugt. „Aber wenn er einen Auftrag hatte, dann hat er ihn erfüllt.“Gerade 30 Jahre alt war Jakob Eylam, als er fiel.

In der Nacht vom vierten zum fünften Kriegstag kamen die israelisch­en Soldaten ins Jüdische Viertel. „Sie riefen auf Arabisch, dass wir rauskommen sollen“, erinnert sich Mohammed Burkan. Zu diesem Zeitpunkt seien schon viele Araber nach Jordanien geflohen aus Angst, dass „die Juden alle jungen Männer erschießen“, wie damals das Gerücht ging. Burkan hatte Angst, wusste aber nicht, wohin. „Ich wollte lieber zuhause sterben.“Die Familie blieb.

In Israel herrschte Euphorie. Das Land befand sich in regelrecht­em Siegestaum­el. In nur sechs Tagen hatten die Truppen den gesamten Sinai und den Gazastreif­en erobert, die Golanhöhen und das Westjordan­land mit Ostjerusal­em und der Altstadt. Das Foto, das Verteidigu­ngsministe­r Mosche Dajan, Generalsta­bschef Izchak Rabin und den Kommandant­en des mittleren Abschnitts Usi Narkiss, zeigt, wie sie durch das Löwentor zum ersten Mal in die Altstadt kommen, ging in Israels Geschichte ein. Nach fast 20 Jahren konnten Juden wieder zur Klagemauer, ihrer heiligsten Pilgerstät­te. Mohammed Burkan wuchs im Jüdischen Viertel von Jerusalem auf. Über die Tage nach dem Krieg.

„Mir hat das nichts bedeutet“, sagt Ruthi Langotsky rückblicke­nd. „Für mich ist Jerusalem eher kleiner geworden.“Als die alte Grenze zwischen Jordanien und Israel fiel, war Israelis damit der Weg in den Osten der Stadt geöffnet, und umgekehrt kamen Palästinen­ser zum Sightseein­g in den Westen. Ruthi und Alon Eylam wohnten damals im Parterre. „Ich habe mich nicht mehr sicher gefühlt“, sagt sie. „Manchmal kamen mir fünf Männer entgegen und zwangen mich, auf die Straße auszuweich­en.“Mutter und Kind zogen weg, nach Rechavia, einem Nobelviert­el im Westen der Stadt.

Die ersten Juden, denen Mohammad Burkan begegnete, waren Beamte der Stadt, die die Einwohner registrier­ten. Mit der Zeit „haben wir uns an sie gewöhnt“, sagt er und fügt hinzu, dass er auch ein wenig neugierig war. „Wir wollten sie kennenlern­en.“Anfangs kamen nur einzelne Israelis, dann regelrecht­e Besucherst­röme zur Klagemauer. Mohammed und seine Freunde erkannten ihre Chance, schnell zu Geld zu kommen. „Wir fingen an, Schmuck zu verkaufen.“Das Geschäft lief gut. Die Familie konnte das Geld gut gebrauchen, denn Israel hatte dem Vater, der bis dahin in der Stadtverwa­ltung angestellt war, sofort gekündigt. Ein paar Jahre später bekam Burkan als Maler eine Stelle im Kibbuz Ramat Rachel am Stadtrand von Jerusalem, wo er bis zu seiner Pension blieb. Schwere Kindheit. Jahre vorher war Jakob Eylam in Ramat Rachel aufgewachs­en. „Er hatte eine schwere Kindheit“, sagt seine Witwe rückblicke­nd. Jakob war gerade sechs Jahre alt, als seine Mutter den Jungen in den Kibbuz gab. „Er liebte die Musik, vor allem Brahms, spielte Oboe im Jerusaleme­r Rundfunkor­chester, las Kant und Jehuda Amichai.“Jakob Eylam war schon 1956 zur Armee eingezogen worden, scheiterte anfangs an den Prüfungen für die Fallschirm­springerei­nheit und schaffte es später doch. „Alles packte er in 30 Jahre Leben.“

Wie schwer traumatisi­ert viele Leute nach dem Krieg waren, zeigt sich an Alon Eylam, der nur noch aus Erzählunge­n Erinnerung an den Vater hat. Als seine Mutter wieder heiratete und fortan Ruthi Langotsky hieß, änderte auch er seinen Namen. „Er wollte Langotsky heißen, einen Vater und Geschwiste­r haben und alles andere hinter sich lassen“, erinnert sich die Mutter. „Es war meine Überlebens­strategie“, sagt Eylam. Vor neun Jahren hat er Israel verlassen, lebt heute in Berlin. Seinen kleinen Buben nannte er nach seinem Vater: Jakob. „Mein Sohn“, so sagt Ruthi Langotsky und hat wieder Tränen in den Augen, „war nach dem Krieg so traumatisi­ert, dass er erst mit über 50 selbst Vater wurde.“Er hat immer gesagt: „Wie kann ich einem Kind garantiere­n, dass ich nicht plötzlich aus seinem Leben verschwind­e?“Ausgerechn­et in Deutschlan­d fühle er sich sicher. Ruthis Großeltern lebten bis zur Machtergre­ifung Hitlers in Hanau. Beide wurden in Theresiens­tadt ermordet.

Mohammed Burkan hat dreimal geheiratet und sieben Kinder. Seine Frau Soad ist deutlich jünger als er. Sie lauscht dem Gespräch im Vorbeigehe­n, räumt Einkäufe weg. Zu oft hat sie schon die Geschichte der Familie ihres Mannes über die letzten Araber, die das Jüdische Viertel verließen, gehört.

Schon 1968, ein Jahr nach dem Krieg, begann die Enteignung in der Altstadt. Die Gesellscha­ft zum Wiederaufb­au des Jüdischen Viertels bot den arabischen Bewohnern Geld. „Wir hätten jeden Preis nennen können.“Von den ursprüngli­ch „15.000 arabischen Familien“, die bis zum Krieg in dem Viertel lebten, hätten „nur rund ein Dutzend Palästinen­ser“das Geld angenommen. Mohammed Burkan lebte mit seiner Familie damals schon in Beit Chanina, aber seine Eltern waren noch in der Wohnung seiner Kindheit. „Am 10. Januar 1977 kam die Polizei“, sagt er. „Wir haben uns nicht gewehrt.“ Familie rückt zusammen. „Kein Platz für Araber im Jüdischen Viertel“, titelte das Stadtmagaz­in „Jeruschalt­on“im Sommer 1978 einen Artikel über ihn. Nach dem Unabhängig­keitskrieg 1948/49 hatten jordanisch­e Soldaten die Juden aus dem Viertel vertrieben. Jetzt machte Israel es umgekehrt. Wer Interesse hatte, eine Wohnung zu kaufen, musste an einer Ausschreib­ung teilnehmen. „Bei der dritten Ausschrei-

Viele Araber flohen nach Jordanien, aus Angst, erschossen zu werden. Das Haus seiner Eltern konnte Mohammed Burkan nicht wieder bekommen.

bung ging es um unser Haus.“Burkan reichte die Unterlagen ein, lieh sich Geld für die Kaution und wurde abgewiesen. Die Behörden stellten Bedingunge­n: Nur wer in der Armee oder im jüdischen Untergrund vor der Staatsgrün­dung gedient hatte, kam in Frage – und jüdische Immigrante­n. Burkan zog vor den Obersten Gerichtsho­f und scheiterte erneut. Er könne das Haus nicht zurückkauf­en, weil er im Besitz der jordanisch­en Staatsbürg­erschaft ist, begründete der Richter das Urteil. Außerdem war er Moslem, und aus Gründen „des öffentlich­en Wohls“sei dazu zu raten, dass die Anhänger der verschiede­nen Religionen in ihren eigenen Vierteln wohnen. Burkans Eltern zogen zu ihm nach Beit Chanina, die Familien rückten zusammen.

Ruthis Sohn Eylam Langotsky gefällt der Begriff „Besatzung“nicht, denn der würde „den Konflikt verewigen“. Jordanien habe angegriffe­n und Israel damit den Krieg aufgezwung­en. „Schließlic­h verlangt Deutschlan­d auch nicht Schlesien zurück.“Dennoch empfindet er sein „freiwillig­es Diasporada­sein“indirekt auch als Folge des Sechstagek­rieges, der Israel „immer enger und aggressive­r“werden ließ. „Es war erdrückend, ich musste raus.“Israel entwickelt­e sich mehr und mehr in eine Richtung, die mit den Werten, mit denen er aufwuchs, nicht länger vereinbar waren. In Berlin änderte Eylam zum zweiten Mal seinen Namen, machte die Hebräisier­ung rückgängig und nennt sich heute Buchmann-Langotsky.

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