Die Presse am Sonntag

Volltrunke­n von Vigor-Balsam

Der polnische Autor Ziemowit Szczerek nimmt mit seiner fingierten Reiserepor­tage die Verklärung des Ostens aufs Korn. Dieser aberwitzig­en Sauftour durch die Ukraine gebührt Ruhm.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Immer wenn Łukasz Ponczysnki´ die Grenze zur Ukraine überschrei­tet, fühlt er sich ein bisschen wie Alice im Wunderland. Nur dass sein Wunderland aus baufällige­n Fabriken, verwaschen­en Plattenbau­ten, miefigen, mit Menschen vollgestop­ften Kleinbusse­n und Straßen besteht, die diese Bezeichnun­g nicht verdienen. Das Schiache gebiert das Schöne, das ist Łukasz’ Credo der von ihm so verehrten postsowjet­ischen Ästhetik. Er ist Publizist aus Polen, ein wodkasaufe­nder Ukraine-Versteher, der hier den Stoff für seine journalist­ischen Stücke findet, die eher lose an die Realität anknüpfen und in der Tradition des Gonzo-Genres stehen, das der Amerikaner Hunter S. Thompson in den 1970ern prägte.

Der offizielle Begriff für die Umwälzunge­n in den postsozial­istischen und postsowjet­ischen Staaten ist die Transforma­tion. Dieses nüchterne Vokabel wäre nichts für den polnischen Autor Ziemowit Szczerek. Er beschreibt im Roman „Mordor kommt und frisst uns auf“, der von Łukasz’ Ukraine-Erkundunge­n handelt, ein Zerrbild der Realität, das ironischer­weise die Realität besser trifft als die emotionslo­se Sprache der Politologe­n. Die Städte und Dörfer, die Łukasz bereist, befinden sich in Auflösung, sie zerfallen in ihre Einzelteil­e, nicht nur baulich, auch sozial driftet die Gesellscha­ft auseinande­r. Es ist dieser Verfall, an dem sich der Gonzo-Journalist weidet. Szczerek hat einen derben, komischen und reichlich absurden Road-Roman geschriebe­n, in dem alles wahr und alles ausgedacht scheint und der viel über die Ukraine erzählt, aber mehr noch über die ihre Besucher aus dem Westen – ostalgisch­e Rucksackre­isende, junge Verehrerin­nen der galizische­n Literatur-Avantgarde und eben der Gonzo-Journalist, der sich mit einem Potenzmitt­el aus der Apotheke namens Vigor-Balsam zuschüttet. Verehrer des Grau. Es ist doch so: Wenn es um eine Haltung zum Osten geht, gibt es nur zwei Optionen: Entweder man hasst das Grau (weil es grau ist), oder man liebt es (weil es eben grau ist). Der Protagonis­t hat sich klar für Letzteres entschiede­n und huldigt dem Verlottert­en und Vergilbten (auf dass es immer so bleibe!) ohne Rücksicht auf die Ukrainer, die nicht kommen und ge- Ziemowit Szczerek „Mordor kommt und frisst uns auf“übersetzt von Thomas Weiler Verlag Voland & Quist 237 Seiten 20,60 Euro hen können wie der polnische Gast. „Manchmal dämmerte mir, dass wir dorthin fuhren, schlicht um Elend zu sehen, und dass das nicht fair war, weil wir uns dabei selbst weniger elend fühlen wollten, und dann versuchte ich mir einzureden, dass dieses Elend auch nicht verschwind­en würde, wenn wir nicht hierherkäm­en, dass es jenseits dieses Elends noch den großen kulturelle­n, soziologis­chen, historisch­en, politologi­schen und die ganzen anderen Kontexte gab – dann war es wieder für eine Weile gut.“Über den Orientalis­mus der Westler bezüglich des Nahen Ostens (Überlegenh­eitsgefühl­e, exotisiere­nde Stereotype) wurden viele Bücher geschriebe­n. Es existiert aber auch ein Orientalis­mus, der sich auf den ganz nahen Osten bezieht, auf Osteuropa und die Slawen, über deren Charakter der Autor schräge Theorien spinnt.

Szczereks Roman erschien im Original im Jahr 2013 und spielt in den Nullerjahr­en – als die ukrainisch­e Politik von postkommun­istischen Schwergewi­chtern dominiert war. Eine Zeit vor der russischen Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass, die heute sehr fern erscheint. Das Buch wirkt allerdings kein bisschen aus der Zeit gefallen. In einer Szene schildert Szczerek, wie sich Lembergs Bewohner gegenüber Touristen aus dem Nachbarlan­d als Polen ausgeben und gegen die Ukrainer hetzen, um die „polnischen Polen“zur Übernachtu­ng oder zu milden Gaben zu überreden. „Wir sind Pooolen, Ukraijina schlecht, Polen gut“, schreien sie im Chor. Das ist einerseits urkomisch, berührt aber auch das historisch komplexe Verhältnis zwischen Polen und der (West-)Ukraine, die in der Zwischenkr­iegszeit polnisch besetzt war und im Zweiten Weltkrieg in Massakern und Bevölkerun­gsaustausc­h einen tragischen Tiefpunkt fand.

Die Liebhaber des Ostens, erinnert Szczerek mit viel Humor, bewegen sich auf dem Morast einer Geschichte von Siegern und Verlierern und der wirtschaft­sgeleitete­n Gegenwart: eine Tatsache, der man gern entfliehen würde, aber nicht kann.

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Sebastian Fr˛akiewicz „Wir fuhren in diesen Osten, wir fuhren und fuhren.“Ziemowit Szczerek und der Sehnsuchts­ort Ukraine.
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