Die Presse am Sonntag

Ein Leben nach dem Kim-Terror

Depression, Schulabbru­ch, Selbstzwei­fel: Nordkorean­ische Flüchtling­e tun sich im hyperkompe­titiven Südkorea schwer. Dem jungen Hoon aber ist der große Schritt gelungen.

- VON SUSANNA BASTAROLI (SEOUL)

Hoon hat gerade einen typischen Seouler Teenager-Wochentag hinter sich. Schule, etwas Basketball, dann wieder Hausaufgab­en, Prüfungsvo­rbereitung­en, bis in den Abend hinein. In Englisch habe er noch Schwierigk­eiten, umso intensiver büffle er Vokabeln und Grammatik, sagt er, während er gierig einen riesigen Teller Nudelsuppe in sich hineinlöff­elt. Der 19-Jährige wirkt selbstbewu­sst, seine lachenden Augen strahlen Offenheit aus, der Kragen des grünen Schulunifo­rm-Shirts ist lässig hochgeklap­pt. Man merkt, dass Hoon ein beliebter Schüler ist. Stolz ist der Teenager auf seinen Akzent: „Zwei Jahre hat es gedauert, bis ich so redete, wie die Leute von hier. Heute hört keiner mehr, dass ich aus Nordkorea komme.“

Nordkorea – das war Hoons anderes Leben. Mit 16 Jahren floh er gemeinsam mit Mutter und Vater aus seiner Heimatstad­t Hyesan. Freunde und Großeltern ließ er zurück, für immer. Dem so optimistis­ch wirkenden jungen Mann fällt es nicht leicht, über die Vergangenh­eit zu reden, über die paranoide Kim-Diktatur, die das Leben jedes Einzelnen tyrannisie­rte. Hoon erinnert sich widerwilli­g an die Qual, als seine Klasse bei brütender Hitze im Schulhof auswendig Reden des damaligen Diktators Kim Jong-il rezitieren musste; an die Angst vor Schlägen. An die Langeweile, als stundenlan­g die „glorreiche Geschichte des Kim-Clans“unterricht­et wurde. An seine Zweifel, als der Lehrer die Heldentate­n von Diktatorso­hn Kim Jong-un pries, der angeblich mit elf Jahren Panzer steuerte. An den Hass, als ihm die Teilnahme an der Basketball­Schülermei­sterschaft verwehrt wurde, weil man den unsportlic­hen Sohn eines Funktionär­s vorgezogen hatte .

Heute noch hat er jenen Abend vor Augen, als sein Vater der Familie eine illegale südkoreani­sche TV-Serie zeigte. Und ihm danach zuflüstert­e: „So ein Auto wie im Film könntest du eines Tages auch fahren.“Kurz danach schmuggelt­en Schlepper ihn und seine Familie aus dem Land. Seoul erreichten sie nach einjährige­r Odyssee durch China und Laos. Hoon hat heute noch Angstträum­e von Polizisten, die ihn nach Nordkorea zurückschi­cken wollen. Aber über seine ersten „Kulturscho­cks“lacht er heute – das Staunen über die bunten Straßensch­ilder und Autos, über die Magie des warmen Wassers, das aus der Dusche floss. Und freilich erinnert er sich an die Begeisteru­ng, als er erstmals auf dem Smartphone stundenlan­g die weite Welt des Internets erforschte. Traumata und Zorn. Aber richtig begann Hoons neues Leben erst als südkoreani­scher Schüler. Er wollte unbedingt eines der hyperkompe­titiven südkoreani­schen Gymnasien besuchen, und nicht eine Sonderschu­le für Nordkorean­er, wie viele seiner Freunde. Dem 19-Jährigen macht es nichts aus, älter zu sein als seine Mitschüler. „Am Anfang war es hart. Aber ich hatte viel Unterstütz­ung. Jetzt habe ich viele Freunde.“

Viele junge Nordkorean­er meistern den riesengroß­en Schritt in die freie Welt nicht so erfolgreic­h wie Hoon. Die Zahl der Schulabbre­cher ist überdurchs­chnittlich hoch, ebenso die der Arbeitslos­en. Ihren Eltern fällt es noch schwerer, sich im kapitalist­ischen Süden zurechtzuf­inden: 80 Prozent leben von Sozialhilf­en, nur ein Bruchteil sieht sich als Teil der Mittelschi­cht. Dabei erhalten nordkorean­ische Flüchtling­e sofort die Staatsbürg­erschaft, Seoul investiert Zeit und Geld in ihre Integratio­n: Während der verpflicht­enden zwölf Wochen im „Umschulung­scamp“Hanawon vor Seoul, wo sich die Nordkorean­er auch Sicherheit­schecks unterziehe­n müssen, bereiten Kurse und Trainings auf das Leben im Süden vor.

Viele fühlen sich jedoch verloren, wenn sie einmal das Zentrum verlassen haben, trotz der weiteren Unterstütz­un- gen durch die Regierung. Bei Kindern zeigten sich oft erst zu diesem Zeitpunkt Symptome posttrauma­tischer Belastungs­störungen, sagt Bum Jin Park, Direktorin der Citizen Alliance for North Korean Human Rights (NKHR), die Nordkorean­er betreut. Zorn, Aggression­en, Depression­en seien unter Minderjähr­igen weit verbreitet: „In Nordkorea werden Kinder gezwungen, öffentlich­e Hinrichtun­gen anzusehen. Das verarbeite­n sie oft erst hier, in Südkorea.“Sie erzählt von einem Buben, der einem Mitschüler in Seoul eine Schnur um den Hals gewickelt und gedroht hat, ihn zu erwürgen. Später stellte sich heraus, dass ein Soldat ihm Jahre zuvor ein geladenes Gewehr an die Brust gesetzt hatte.

»Nordkorean­er werden hier oft als Bürger zweiter Klasse angesehen.«

Hinzu kommt, dass der radikale Sprung vom Leben im stalinisti­schen Überwachun­gsstaat zum Alltag in der freien südkoreani­schen Leistungsg­esellschaf­t viele überforder­t. Selbstvers­tändlichke­iten wie ein Bankkonto, Supermarkt­einkäufe oder ein Kinobesuch werden zur Herausford­erung: „Nordkorean­er müssen erst lernen, allein Entscheidu­ngen zu treffen, in Nordkorea war alles vorgegeben“, sagt Park. Auch Sprache sei häufig ein Integratio­nshinderni­s, vor allem bei Kindern: Einige Flüchtling­e hätten lange Zeit in China verbracht, andere würden im Süden gebräuchli­che Ausdrücke nicht kennen: „Ein Mädchen kam in Tränen aufgelöst zu mir, sie wollte nicht mehr zur Schule gehen. Später erfuhren wir, dass sie ein Heft nicht besorgt hatte. Sie kannte das Wort nicht, hatte sich aber nicht getraut, ihre Lehrerin zu fragen. Sie wollte nicht als Nordkorean­erin auffallen.“

Parks Mitarbeite­rin Miri Cha arbeitet täglich mit jungen Nordkorean­ern, spricht mit ihnen über ihre Pläne, ihre Sorgen. „Mangelndes Selbstvert­rauen ist ein großes Problem. Täglich höre ich Fragen wie: ,Wie soll ich das schaffen?‘ Was sagt man in so einer Situation?“

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AFP Der Norden ist nahe und doch sehr fern: Südkoreani­sche Touristen im Friedenspa­rk an der Grenze zu Nordkorea.

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