Ein Leben nach dem Kim-Terror
Depression, Schulabbruch, Selbstzweifel: Nordkoreanische Flüchtlinge tun sich im hyperkompetitiven Südkorea schwer. Dem jungen Hoon aber ist der große Schritt gelungen.
Hoon hat gerade einen typischen Seouler Teenager-Wochentag hinter sich. Schule, etwas Basketball, dann wieder Hausaufgaben, Prüfungsvorbereitungen, bis in den Abend hinein. In Englisch habe er noch Schwierigkeiten, umso intensiver büffle er Vokabeln und Grammatik, sagt er, während er gierig einen riesigen Teller Nudelsuppe in sich hineinlöffelt. Der 19-Jährige wirkt selbstbewusst, seine lachenden Augen strahlen Offenheit aus, der Kragen des grünen Schuluniform-Shirts ist lässig hochgeklappt. Man merkt, dass Hoon ein beliebter Schüler ist. Stolz ist der Teenager auf seinen Akzent: „Zwei Jahre hat es gedauert, bis ich so redete, wie die Leute von hier. Heute hört keiner mehr, dass ich aus Nordkorea komme.“
Nordkorea – das war Hoons anderes Leben. Mit 16 Jahren floh er gemeinsam mit Mutter und Vater aus seiner Heimatstadt Hyesan. Freunde und Großeltern ließ er zurück, für immer. Dem so optimistisch wirkenden jungen Mann fällt es nicht leicht, über die Vergangenheit zu reden, über die paranoide Kim-Diktatur, die das Leben jedes Einzelnen tyrannisierte. Hoon erinnert sich widerwillig an die Qual, als seine Klasse bei brütender Hitze im Schulhof auswendig Reden des damaligen Diktators Kim Jong-il rezitieren musste; an die Angst vor Schlägen. An die Langeweile, als stundenlang die „glorreiche Geschichte des Kim-Clans“unterrichtet wurde. An seine Zweifel, als der Lehrer die Heldentaten von Diktatorsohn Kim Jong-un pries, der angeblich mit elf Jahren Panzer steuerte. An den Hass, als ihm die Teilnahme an der BasketballSchülermeisterschaft verwehrt wurde, weil man den unsportlichen Sohn eines Funktionärs vorgezogen hatte .
Heute noch hat er jenen Abend vor Augen, als sein Vater der Familie eine illegale südkoreanische TV-Serie zeigte. Und ihm danach zuflüsterte: „So ein Auto wie im Film könntest du eines Tages auch fahren.“Kurz danach schmuggelten Schlepper ihn und seine Familie aus dem Land. Seoul erreichten sie nach einjähriger Odyssee durch China und Laos. Hoon hat heute noch Angstträume von Polizisten, die ihn nach Nordkorea zurückschicken wollen. Aber über seine ersten „Kulturschocks“lacht er heute – das Staunen über die bunten Straßenschilder und Autos, über die Magie des warmen Wassers, das aus der Dusche floss. Und freilich erinnert er sich an die Begeisterung, als er erstmals auf dem Smartphone stundenlang die weite Welt des Internets erforschte. Traumata und Zorn. Aber richtig begann Hoons neues Leben erst als südkoreanischer Schüler. Er wollte unbedingt eines der hyperkompetitiven südkoreanischen Gymnasien besuchen, und nicht eine Sonderschule für Nordkoreaner, wie viele seiner Freunde. Dem 19-Jährigen macht es nichts aus, älter zu sein als seine Mitschüler. „Am Anfang war es hart. Aber ich hatte viel Unterstützung. Jetzt habe ich viele Freunde.“
Viele junge Nordkoreaner meistern den riesengroßen Schritt in die freie Welt nicht so erfolgreich wie Hoon. Die Zahl der Schulabbrecher ist überdurchschnittlich hoch, ebenso die der Arbeitslosen. Ihren Eltern fällt es noch schwerer, sich im kapitalistischen Süden zurechtzufinden: 80 Prozent leben von Sozialhilfen, nur ein Bruchteil sieht sich als Teil der Mittelschicht. Dabei erhalten nordkoreanische Flüchtlinge sofort die Staatsbürgerschaft, Seoul investiert Zeit und Geld in ihre Integration: Während der verpflichtenden zwölf Wochen im „Umschulungscamp“Hanawon vor Seoul, wo sich die Nordkoreaner auch Sicherheitschecks unterziehen müssen, bereiten Kurse und Trainings auf das Leben im Süden vor.
Viele fühlen sich jedoch verloren, wenn sie einmal das Zentrum verlassen haben, trotz der weiteren Unterstützun- gen durch die Regierung. Bei Kindern zeigten sich oft erst zu diesem Zeitpunkt Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen, sagt Bum Jin Park, Direktorin der Citizen Alliance for North Korean Human Rights (NKHR), die Nordkoreaner betreut. Zorn, Aggressionen, Depressionen seien unter Minderjährigen weit verbreitet: „In Nordkorea werden Kinder gezwungen, öffentliche Hinrichtungen anzusehen. Das verarbeiten sie oft erst hier, in Südkorea.“Sie erzählt von einem Buben, der einem Mitschüler in Seoul eine Schnur um den Hals gewickelt und gedroht hat, ihn zu erwürgen. Später stellte sich heraus, dass ein Soldat ihm Jahre zuvor ein geladenes Gewehr an die Brust gesetzt hatte.
»Nordkoreaner werden hier oft als Bürger zweiter Klasse angesehen.«
Hinzu kommt, dass der radikale Sprung vom Leben im stalinistischen Überwachungsstaat zum Alltag in der freien südkoreanischen Leistungsgesellschaft viele überfordert. Selbstverständlichkeiten wie ein Bankkonto, Supermarkteinkäufe oder ein Kinobesuch werden zur Herausforderung: „Nordkoreaner müssen erst lernen, allein Entscheidungen zu treffen, in Nordkorea war alles vorgegeben“, sagt Park. Auch Sprache sei häufig ein Integrationshindernis, vor allem bei Kindern: Einige Flüchtlinge hätten lange Zeit in China verbracht, andere würden im Süden gebräuchliche Ausdrücke nicht kennen: „Ein Mädchen kam in Tränen aufgelöst zu mir, sie wollte nicht mehr zur Schule gehen. Später erfuhren wir, dass sie ein Heft nicht besorgt hatte. Sie kannte das Wort nicht, hatte sich aber nicht getraut, ihre Lehrerin zu fragen. Sie wollte nicht als Nordkoreanerin auffallen.“
Parks Mitarbeiterin Miri Cha arbeitet täglich mit jungen Nordkoreanern, spricht mit ihnen über ihre Pläne, ihre Sorgen. „Mangelndes Selbstvertrauen ist ein großes Problem. Täglich höre ich Fragen wie: ,Wie soll ich das schaffen?‘ Was sagt man in so einer Situation?“