Die falsche Angst am gedeckten Tisch
Die Österreicher fürchten sich vor Pestiziden im Gemüse, Hormonen im Fleisch und Gift im Tee. Dabei ist unser Essen so sicher wie nie zuvor, sagen Experten. Die wahren Gefahren rund um Ernährung werden hingegen verdrängt.
Unkrautvernichter im Bier, Listerien im Käse und Dioxin in Bioeiern. Wer heute zu Messer und Gabel greift, hat es nicht leicht. Viele Menschen haben nach Lebensmittelskandalen Angst vor dem Essen. Selbst die strengsten glutenund lactosefreien Bio-Veganer kommen der scheinbar allgegenwärtigen Gefahr nicht aus. Und jetzt will die EU-Kommission auch noch die Zulassung für das strittige Pflanzenschutzmittel Glysophat um weitere zehn Jahre verlängern. Der Aufschrei der Gegner des vermeintlich krebserregenden Düngers ist groß. Fast schon zu groß, sagen Ernährungsexperten. Die Situation ist paradox, meint etwa Ingrid Kiefer von der Agentur für Ernährungssicherheit (AGES) zur „Presse am Sonntag“. „Die Menschen haben so viel Angst vor dem Essen wie selten zuvor. Gleichzeitig sind unsere Lebensmittel sicher wie noch nie“. Woher aber kommt diese Fehleinschätzung?
Um dieser Frage nachzugehen, erstellte die AGES den sogenannten Risikoatlas, in dem die größten Sorgen der Österreicher rund um das Thema Ernährung mit den größten Gefahren gegenübergestellt werden. Achtung, ein kleiner Spoiler: Die beiden Listen sind nicht ansatzweise deckungsgleich. Ganz oben auf der „Hitliste“der größten Ängste der Österreicher stehen gentechnisch veränderte Lebensmittel, Pestizide, Radioaktivität, Zusatzstoffe und Allergene in ihrem Essen. Natürlich haben all diese Punkte ihre Berechtigung. Doch die reale Gefahr, die von ihnen ausgeht, sei weit geringer als die Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, so die Expertin. Giftmischerin Natur. Selbstverständlich beinhalten viele Lebensmittel gefährliche Giftstoffe. Was allerdings gern ausgeblendet wird: Die allermeisten von ihnen wurden nicht künstlich erzeugt und von Agrarriesen wie Monsanto beigemischt, sondern von Mutter Natur. In Fachkreisen gilt das seit über einem Vierteljahrhundert als unbestritten. Damals hatte der amerikanische Biochemiker Bruce Ames in einer viel zitierten Studie nachgewiesen, dass 99,99 Prozent aller Pestizide in amerikanischen Nahrungsmitteln von Pflanzen selbst produziert werden, damit sich diese gegen ihre Feinde verteidigen können. „Nach unserer Schätzung essen Amerikaner ungefähr 1,5 Gramm natürlicher Pestizide pro Tag, ungefähr 10.000 Mal so viel, wie sie an synthetischen Pestiziden zu sich nehmen“, heißt es in der Studie. Die natürlichen Pestizide wirken in gleichem Maße auf den Organismus wie künstliche und sollten daher bei der Risikobewertung mit einbezogen werden, fordert die Chemiebranche seither. Gefährliche Himbeere. Der Artikel von Bruce Ames, der 1990 in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences erschien, hat in der akademischen Welt ein kleines Erdbeben ausgelöst. Bis zu den Menschen in den Supermärkten haben sich die Ergebnisse allerdings bis heute nicht so richtig herumgesprochen. Während synthetische Giftstoffe weiter entschlossen bekämpft werden, nehmen die meisten Menschen die natürlichen Giftbomben bedenkenlos zu sich. Das Lieblingsbeispiel von Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Uni Dortmund, ist die Himbeere. Himbeeren enthalten so viele giftige Aldehyde, Ketone, Alkohole, Ester und Säuren, dass ein Unternehmen, das die Beere neu auf den Markt bringen wollte, heute keine Chance auf eine Zulassung hätte, sagte er vor einiger Zeit bei einem Vortrag in Wien.
Aber Himbeeren sind nicht das einzige Beispiel für das Potenzial der Giftmischerin Natur. Avocados können gefährlich für Diabetiker sein, da die darin enthaltene Mannoheptulose die Insulinproduktion hemmt. Bananen enthalten das herzschädigende Serotonin. Wie immer gilt: Die Dosis macht das Gift. In normalen Mengen sind die natürlichen Giftstoffe in herkömmlichen Lebensmitteln unbedenklich. Bei Überdosierung kann aber schon Senf zu Nie-
Prozent
aller Pestizide in unseren Lebensmitteln erzeugt die Natur selbst.
Liter
Bier am Tag müsste ein Mensch trinken, damit ihm das Glyphosat darin Probleme bereitet. renschäden führen. Die Dosis Myristicin und Elemicin, die in zwei Muskatnüssen enthalten ist, reicht aus, um ein Kind zu töten. Bittermandeln und Leinsamen sind voll giftiger Blausäure. Ein halbes Blatt Basilikum gilt aufgrund des enthaltenen Estragols als ähnlich ungesund wie zwei Zigaretten.
Mangelnde Aufklärungsarbeit kann man den staatlichen Stellen hier nicht vorwerfen. Als im Vorjahr Rückstände des Pflanzenschutzmittels Glyphosat in deutschen Bieren gefunden wurden, stand das Bundesinstitut für Risikobewertung rasch bereit, um die Verhältnisse zurechtzurücken: „Um gesundheitlich bedenkliche Mengen von Glyphosat aufzunehmen, müsste ein Erwachsener an einem Tag rund 1000 Liter Bier trinken.“, vermeldete die Behörde. Bevor ein Mensch das schafft, ist er längst einer Ethanolvergiftung erlegen.
Rein wissenschaftlich betrachtet, sind Pestizide auch in Österreich eher ein Randthema. So waren laut aktuellem Lebensmittelsicherheitsbericht im Vorjahr etwa nur 0,9 Prozent aller 2376 getesteten Lebensmittelproben stärker mit Pestiziden belastet als erlaubt. Nur in zwei Fällen bestand die Chance auf ein Gesundheitsrisiko. Aber wie konnten die Pestizide dann zur zweitgrößten Sorge der Österreicher aufsteigen?
Auf der Suche nach Schuldigen für die fehlgeleiteten Ängste der Bevölkerung wird AGES-Expertin Ingrid Kiefer schnell fündig: „Medien und NGOs spielen eine große Rolle“, sagt sie. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace haben sich seit Jahren dem Kampf gegen künstliche Pestizide verschrieben. In regelmäßigen Abständen veröffentlichen sie kleinere oder größere Skandale, die von vielen Zeitungen und Fernsehsendern mit Begeisterung aufgegriffen werden. 2015 untersuchte die Organisation etwa europaweit Apfelplantagen nach Pestiziden – und wurde fündig. Nachdem deutsche Behörden die Studien genauer angesehen hatten, musste auch selbst Greenpeace zugeben, dass keinerlei Gefahr für Menschen bestehe. Aber egal, um die erhoffte Aufmerksamkeit zu generieren, die letztlich auch jede NGO zum Überleben braucht, hat es allemal gereicht. Zu viel Zucker, Salz und Fett. Auch im aktuellen Streit um die Neuzulassung des Unkrautvernichters Glyphosat scheinen die Kritiker nicht so rasch klein beigeben zu wollen. Das Produkt wird unter dem Markennamen Roundup von Monsanto seit den 1970er-Jahren vertrieben und von Landwirten rund um den Globus eingesetzt. Strittig war bis zuletzt, ob Glyphosat bei Menschen krebserregend ist, oder nicht. Die Gegner argumentieren vor allem mit einer Studie von der Internationalen Behörde für Krebsforschung (IARC), in der Glyphosat Ende 2015 als „wahrscheinlich krebserregend“eingestuft wurde. Ein vergleichbares Gefahrenpotenzial gilt laut IARC übrigens auch für rotes Fleisch oder Schichtarbeit.
Die Lebensmittel sind sicher wie nie. Gleichzeitig war die Angst vor ihnen nie größer. Die größten Bedrohungen sind Salmonellen, Schimmelpilze und Überernährung.
Dem gegenüber stehen die Ergebnisse des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung, der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA und der EU-Chemikalienagentur ECHA. Sie alle haben Glyphosat als weitgehend unbedenklich eingestuft. Die EU-Kommission empfiehlt zwar eine Verlängerung der Zulassung um zehn Jahre, will das aber nicht allein bestimmen und hat die Entscheidung in der Causa in den Herbst verschoben.
Das ist immerhin ein Teilerfolg für die Kampagnen der Umweltschutzorganisationen. Aber haben sie der Gesundheit der Menschen damit wirklich einen Dienst erwiesen? Glaubt man Ingrid Kiefer, verdecken groß angelegte Kampagnen über Einzelthemen oft den Blick auf die wahren Gefahrenherde, die rund ums Essen lauern: „Die Menschen regen sich über das Falsche auf.“
Die größten Gefahren gehen laut AGES nämlich weder von der Gentechnik noch von künstlichen oder natürlichen Giftstoffen aus, sondern von Mikroorganismen in Lebensmitteln und Fehlernährung. Es sind die Klassiker, die den Menschen am meisten scha-