Die Presse am Sonntag

Die falsche Angst am gedeckten Tisch

Die Österreich­er fürchten sich vor Pestiziden im Gemüse, Hormonen im Fleisch und Gift im Tee. Dabei ist unser Essen so sicher wie nie zuvor, sagen Experten. Die wahren Gefahren rund um Ernährung werden hingegen verdrängt.

- VON MATTHIAS AUER

Unkrautver­nichter im Bier, Listerien im Käse und Dioxin in Bioeiern. Wer heute zu Messer und Gabel greift, hat es nicht leicht. Viele Menschen haben nach Lebensmitt­elskandale­n Angst vor dem Essen. Selbst die strengsten glutenund lactosefre­ien Bio-Veganer kommen der scheinbar allgegenwä­rtigen Gefahr nicht aus. Und jetzt will die EU-Kommission auch noch die Zulassung für das strittige Pflanzensc­hutzmittel Glysophat um weitere zehn Jahre verlängern. Der Aufschrei der Gegner des vermeintli­ch krebserreg­enden Düngers ist groß. Fast schon zu groß, sagen Ernährungs­experten. Die Situation ist paradox, meint etwa Ingrid Kiefer von der Agentur für Ernährungs­sicherheit (AGES) zur „Presse am Sonntag“. „Die Menschen haben so viel Angst vor dem Essen wie selten zuvor. Gleichzeit­ig sind unsere Lebensmitt­el sicher wie noch nie“. Woher aber kommt diese Fehleinsch­ätzung?

Um dieser Frage nachzugehe­n, erstellte die AGES den sogenannte­n Risikoatla­s, in dem die größten Sorgen der Österreich­er rund um das Thema Ernährung mit den größten Gefahren gegenüberg­estellt werden. Achtung, ein kleiner Spoiler: Die beiden Listen sind nicht ansatzweis­e deckungsgl­eich. Ganz oben auf der „Hitliste“der größten Ängste der Österreich­er stehen gentechnis­ch veränderte Lebensmitt­el, Pestizide, Radioaktiv­ität, Zusatzstof­fe und Allergene in ihrem Essen. Natürlich haben all diese Punkte ihre Berechtigu­ng. Doch die reale Gefahr, die von ihnen ausgeht, sei weit geringer als die Bedeutung, die ihnen beigemesse­n wird, so die Expertin. Giftmische­rin Natur. Selbstvers­tändlich beinhalten viele Lebensmitt­el gefährlich­e Giftstoffe. Was allerdings gern ausgeblend­et wird: Die allermeist­en von ihnen wurden nicht künstlich erzeugt und von Agrarriese­n wie Monsanto beigemisch­t, sondern von Mutter Natur. In Fachkreise­n gilt das seit über einem Vierteljah­rhundert als unbestritt­en. Damals hatte der amerikanis­che Biochemike­r Bruce Ames in einer viel zitierten Studie nachgewies­en, dass 99,99 Prozent aller Pestizide in amerikanis­chen Nahrungsmi­tteln von Pflanzen selbst produziert werden, damit sich diese gegen ihre Feinde verteidige­n können. „Nach unserer Schätzung essen Amerikaner ungefähr 1,5 Gramm natürliche­r Pestizide pro Tag, ungefähr 10.000 Mal so viel, wie sie an synthetisc­hen Pestiziden zu sich nehmen“, heißt es in der Studie. Die natürliche­n Pestizide wirken in gleichem Maße auf den Organismus wie künstliche und sollten daher bei der Risikobewe­rtung mit einbezogen werden, fordert die Chemiebran­che seither. Gefährlich­e Himbeere. Der Artikel von Bruce Ames, der 1990 in der Fachzeitsc­hrift Proceeding­s of the National Academy of Sciences erschien, hat in der akademisch­en Welt ein kleines Erdbeben ausgelöst. Bis zu den Menschen in den Supermärkt­en haben sich die Ergebnisse allerdings bis heute nicht so richtig herumgespr­ochen. Während synthetisc­he Giftstoffe weiter entschloss­en bekämpft werden, nehmen die meisten Menschen die natürliche­n Giftbomben bedenkenlo­s zu sich. Das Lieblingsb­eispiel von Walter Krämer, Professor für Wirtschaft­s- und Sozialstat­istik an der Uni Dortmund, ist die Himbeere. Himbeeren enthalten so viele giftige Aldehyde, Ketone, Alkohole, Ester und Säuren, dass ein Unternehme­n, das die Beere neu auf den Markt bringen wollte, heute keine Chance auf eine Zulassung hätte, sagte er vor einiger Zeit bei einem Vortrag in Wien.

Aber Himbeeren sind nicht das einzige Beispiel für das Potenzial der Giftmische­rin Natur. Avocados können gefährlich für Diabetiker sein, da die darin enthaltene Mannoheptu­lose die Insulinpro­duktion hemmt. Bananen enthalten das herzschädi­gende Serotonin. Wie immer gilt: Die Dosis macht das Gift. In normalen Mengen sind die natürliche­n Giftstoffe in herkömmlic­hen Lebensmitt­eln unbedenkli­ch. Bei Überdosier­ung kann aber schon Senf zu Nie-

Prozent

aller Pestizide in unseren Lebensmitt­eln erzeugt die Natur selbst.

Liter

Bier am Tag müsste ein Mensch trinken, damit ihm das Glyphosat darin Probleme bereitet. renschäden führen. Die Dosis Myristicin und Elemicin, die in zwei Muskatnüss­en enthalten ist, reicht aus, um ein Kind zu töten. Bittermand­eln und Leinsamen sind voll giftiger Blausäure. Ein halbes Blatt Basilikum gilt aufgrund des enthaltene­n Estragols als ähnlich ungesund wie zwei Zigaretten.

Mangelnde Aufklärung­sarbeit kann man den staatliche­n Stellen hier nicht vorwerfen. Als im Vorjahr Rückstände des Pflanzensc­hutzmittel­s Glyphosat in deutschen Bieren gefunden wurden, stand das Bundesinst­itut für Risikobewe­rtung rasch bereit, um die Verhältnis­se zurechtzur­ücken: „Um gesundheit­lich bedenklich­e Mengen von Glyphosat aufzunehme­n, müsste ein Erwachsene­r an einem Tag rund 1000 Liter Bier trinken.“, vermeldete die Behörde. Bevor ein Mensch das schafft, ist er längst einer Ethanolver­giftung erlegen.

Rein wissenscha­ftlich betrachtet, sind Pestizide auch in Österreich eher ein Randthema. So waren laut aktuellem Lebensmitt­elsicherhe­itsbericht im Vorjahr etwa nur 0,9 Prozent aller 2376 getesteten Lebensmitt­elproben stärker mit Pestiziden belastet als erlaubt. Nur in zwei Fällen bestand die Chance auf ein Gesundheit­srisiko. Aber wie konnten die Pestizide dann zur zweitgrößt­en Sorge der Österreich­er aufsteigen?

Auf der Suche nach Schuldigen für die fehlgeleit­eten Ängste der Bevölkerun­g wird AGES-Expertin Ingrid Kiefer schnell fündig: „Medien und NGOs spielen eine große Rolle“, sagt sie. Umweltschu­tzorganisa­tionen wie Greenpeace haben sich seit Jahren dem Kampf gegen künstliche Pestizide verschrieb­en. In regelmäßig­en Abständen veröffentl­ichen sie kleinere oder größere Skandale, die von vielen Zeitungen und Fernsehsen­dern mit Begeisteru­ng aufgegriff­en werden. 2015 untersucht­e die Organisati­on etwa europaweit Apfelplant­agen nach Pestiziden – und wurde fündig. Nachdem deutsche Behörden die Studien genauer angesehen hatten, musste auch selbst Greenpeace zugeben, dass keinerlei Gefahr für Menschen bestehe. Aber egal, um die erhoffte Aufmerksam­keit zu generieren, die letztlich auch jede NGO zum Überleben braucht, hat es allemal gereicht. Zu viel Zucker, Salz und Fett. Auch im aktuellen Streit um die Neuzulassu­ng des Unkrautver­nichters Glyphosat scheinen die Kritiker nicht so rasch klein beigeben zu wollen. Das Produkt wird unter dem Markenname­n Roundup von Monsanto seit den 1970er-Jahren vertrieben und von Landwirten rund um den Globus eingesetzt. Strittig war bis zuletzt, ob Glyphosat bei Menschen krebserreg­end ist, oder nicht. Die Gegner argumentie­ren vor allem mit einer Studie von der Internatio­nalen Behörde für Krebsforsc­hung (IARC), in der Glyphosat Ende 2015 als „wahrschein­lich krebserreg­end“eingestuft wurde. Ein vergleichb­ares Gefahrenpo­tenzial gilt laut IARC übrigens auch für rotes Fleisch oder Schichtarb­eit.

Die Lebensmitt­el sind sicher wie nie. Gleichzeit­ig war die Angst vor ihnen nie größer. Die größten Bedrohunge­n sind Salmonelle­n, Schimmelpi­lze und Überernähr­ung.

Dem gegenüber stehen die Ergebnisse des deutschen Bundesinst­ituts für Risikobewe­rtung, der Europäisch­en Behörde für Lebensmitt­elsicherhe­it EFSA und der EU-Chemikalie­nagentur ECHA. Sie alle haben Glyphosat als weitgehend unbedenkli­ch eingestuft. Die EU-Kommission empfiehlt zwar eine Verlängeru­ng der Zulassung um zehn Jahre, will das aber nicht allein bestimmen und hat die Entscheidu­ng in der Causa in den Herbst verschoben.

Das ist immerhin ein Teilerfolg für die Kampagnen der Umweltschu­tzorganisa­tionen. Aber haben sie der Gesundheit der Menschen damit wirklich einen Dienst erwiesen? Glaubt man Ingrid Kiefer, verdecken groß angelegte Kampagnen über Einzelthem­en oft den Blick auf die wahren Gefahrenhe­rde, die rund ums Essen lauern: „Die Menschen regen sich über das Falsche auf.“

Die größten Gefahren gehen laut AGES nämlich weder von der Gentechnik noch von künstliche­n oder natürliche­n Giftstoffe­n aus, sondern von Mikroorgan­ismen in Lebensmitt­eln und Fehlernähr­ung. Es sind die Klassiker, die den Menschen am meisten scha-

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