Culture Clash
FRONTNACHRICHTEN AUS DEM KULTURKAMPF
Ausgeliefert. Die Entwicklung des Tötens von Patienten in den Niederlanden löst zunehmend Unbehagen aus, sogar bei Euthanasie-Befürwortern.
Der US-Militärpsychologe Dave Grossman beschreibt in seinem viel beachteten Buch „On Killing“, dass mehr als 80 Prozent der Menschen nicht töten wollen und sie daher, wenn sie als Soldaten ihre Waffe einsetzen sollen, über die Köpfe des Feindes hinwegschießen. Diese Tötungshemmung kann man abtrainieren – aber nicht, wie Grossman warnt, ohne Folgen für die Gesellschaft.
Welche Folgen hat es für die Gesellschaft, wenn sie, wie etwa in den Niederlanden, dazu übergeht, kranke Menschen routinemäßig zu töten? Die kürzlich vorgelegte amtliche Statistik weist dort schon 7254 medizinische Tötungen von Patienten im Jahr 2015 aus. Das sind nicht jene Fälle, bei denen man das Sterben zulässt, sondern echte, aktive Tötungen von Kranken, meist durch Gift. Fast immer führte das medizinische Personal den Tod herbei, nur 150 waren assistierte Selbstmorde. Und 431 der Getöteten hatten keine explizite Einwilligung gegeben.
7254 Menschenleben – das entspricht der Bevölkerung einer Gemeinde wie Zeltweg oder Mattersburg. Die Zahl der Beteiligten ist noch weit größer – Ärzte, Pfleger, Angehörige, deren Tötungshemmung außer Kraft gesetzt wird. Nun wächst sogar bei den Befürwortern der Euthanasie das Unbehagen. So bei Boudewijn Chabot, Psychiater und Altersforscher, der sich rühmt, schon Giftcocktails hergegeben zu haben, als es noch verboten war. Chabot schreibt im „NRC Handelsblad“, das System entgleise, der Schutz der Patienten breche weg.
Vor allem das rasante Ansteigen der Tötung von dementen und psychiatrischen Patienten bereitet Chabot Sorge. Erste Kliniken spezialisieren sich darauf, depressiven Menschen den Tod zu bringen. Es ist, als würde da einer auf dem Sims im zehnten Stock stehen, und die ganze Gesellschaft ruft: „Spring!“Und das Töten dementer Patienten, die nicht einmal wissen, was mit ihnen passiert? Demente sind in ihrem Lebensglück nur noch auf Nähe und Zuwendung angewiesen. Stattdessen bekommen sie eine tödliche Infusion. Ist das die Antwort einer solidarischen Gesellschaft?
Am Anfang jeder Freigabe der Euthanasie stehen begreifliche Ängste vieler Menschen vor einer unerträglichen Situation ohne Ausweg. Es ist die Hoffnung auf Erweiterung der Autonomie des Menschen. Die Warner sagen: Wenn die Unantastbarkeit des Lebens erst einmal preisgegeben ist, wird die Autonomie schleichend ausgehöhlt, bis man am Ende dem Druck einer selbstverständlich gewordenen, budgetär und sozial begrüßten Tötungskultur ausgeliefert ist. Die Erfahrungen der Niederlande zeigen, wie ernst diese Warnungen sind. Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.