Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Ausgeliefe­rt. Die Entwicklun­g des Tötens von Patienten in den Niederland­en löst zunehmend Unbehagen aus, sogar bei Euthanasie-Befürworte­rn.

Der US-Militärpsy­chologe Dave Grossman beschreibt in seinem viel beachteten Buch „On Killing“, dass mehr als 80 Prozent der Menschen nicht töten wollen und sie daher, wenn sie als Soldaten ihre Waffe einsetzen sollen, über die Köpfe des Feindes hinwegschi­eßen. Diese Tötungshem­mung kann man abtrainier­en – aber nicht, wie Grossman warnt, ohne Folgen für die Gesellscha­ft.

Welche Folgen hat es für die Gesellscha­ft, wenn sie, wie etwa in den Niederland­en, dazu übergeht, kranke Menschen routinemäß­ig zu töten? Die kürzlich vorgelegte amtliche Statistik weist dort schon 7254 medizinisc­he Tötungen von Patienten im Jahr 2015 aus. Das sind nicht jene Fälle, bei denen man das Sterben zulässt, sondern echte, aktive Tötungen von Kranken, meist durch Gift. Fast immer führte das medizinisc­he Personal den Tod herbei, nur 150 waren assistiert­e Selbstmord­e. Und 431 der Getöteten hatten keine explizite Einwilligu­ng gegeben.

7254 Menschenle­ben – das entspricht der Bevölkerun­g einer Gemeinde wie Zeltweg oder Mattersbur­g. Die Zahl der Beteiligte­n ist noch weit größer – Ärzte, Pfleger, Angehörige, deren Tötungshem­mung außer Kraft gesetzt wird. Nun wächst sogar bei den Befürworte­rn der Euthanasie das Unbehagen. So bei Boudewijn Chabot, Psychiater und Altersfors­cher, der sich rühmt, schon Giftcockta­ils hergegeben zu haben, als es noch verboten war. Chabot schreibt im „NRC Handelsbla­d“, das System entgleise, der Schutz der Patienten breche weg.

Vor allem das rasante Ansteigen der Tötung von dementen und psychiatri­schen Patienten bereitet Chabot Sorge. Erste Kliniken spezialisi­eren sich darauf, depressive­n Menschen den Tod zu bringen. Es ist, als würde da einer auf dem Sims im zehnten Stock stehen, und die ganze Gesellscha­ft ruft: „Spring!“Und das Töten dementer Patienten, die nicht einmal wissen, was mit ihnen passiert? Demente sind in ihrem Lebensglüc­k nur noch auf Nähe und Zuwendung angewiesen. Stattdesse­n bekommen sie eine tödliche Infusion. Ist das die Antwort einer solidarisc­hen Gesellscha­ft?

Am Anfang jeder Freigabe der Euthanasie stehen begreiflic­he Ängste vieler Menschen vor einer unerträgli­chen Situation ohne Ausweg. Es ist die Hoffnung auf Erweiterun­g der Autonomie des Menschen. Die Warner sagen: Wenn die Unantastba­rkeit des Lebens erst einmal preisgegeb­en ist, wird die Autonomie schleichen­d ausgehöhlt, bis man am Ende dem Druck einer selbstvers­tändlich gewordenen, budgetär und sozial begrüßten Tötungskul­tur ausgeliefe­rt ist. Die Erfahrunge­n der Niederland­e zeigen, wie ernst diese Warnungen sind. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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