Showdown in Caracas
In Venezuela lässt Präsident Maduro heute eine verfassungsgebende Versammlung wählen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen das Votum. Doch die Behörden setzen auf massive Druckmittel, um die Menschen zur Stimmabgabe zu zwingen.
Was an diesem Sonntag die Weichen für Venezuelas Zukunft stellen soll, bezeichnet die Regierung als Wahl. Doch wer sich heute in eines der Tausenden Stimmlokale begibt, kann allein Kandidaten aussuchen, die von der Regierung nominiert wurden. Weil alle anderen politischen Kräfte beschlossen, das Votum zu boykottieren, geriet dieses zu wenig mehr als einem Zustimmungsbarometer der PSUV, der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei.
Formell geht es bei dem Votum um die Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes für das Karibikland mit knapp 31 Millionen Einwohnern. Die Bürger sollen 545 Personen auswählen, die während eines noch unbestimmten Zeitraums eine neue „constitucion“´ ausarbeiten. Allerdings stellte die Wahlbehörde durch ein groteskes Selektionssystem sicher, dass die Regierungsvertreter in der Mehrheit sein werden.
Das Gremium, das nun konstituiert werden soll, vergleichen manche mit den „Wohlfahrtsausschüssen“der Französischen Revolution, andere mit der kubanischen „Nationalversammlung der Volksmacht“. Spaniens Ex-Premier Felipe Gonzalez´ wähnt Parallelen zur „organischen Demokratie“des Diktators Francisco Franco. Auch wenn bislang noch nicht öffentlich erklärt wurde, welche Macht die neue Versammlung gegenüber dem bisherigen Parlament haben wird, nehmen alle Experten an, dass sie das bisherige Parlament ersetzen soll. Dieses wird seit den letzten freien Wahlen Ende 2015 von der Opposition dominiert, allerdings wurden seither sämtliche Parlamentsbeschlüsse vom linientreuen Obersten Gerichtshof postwendend ausgehebelt. Angstmache. Laut einer Umfrage des Instituts Dataanalysis von Freitag vermuten 51,7 Prozent der Befragten, dass der Verfassungsprozess die Macht des Präsidenten Maduro sichern soll. Insgesamt waren 72,7 Prozent gegen die Einberufung der Versammlung. Diese Skepsis manifestierte sich vor zwei Wochen, als die Opposition in einer eilig organisierten Umfrage etwa 7,2 Millionen Stimmen gegen die Regierungspläne einsammeln konnte, trotz Drohungen vonseiten der Behörden. An diesem Sonntag will die Regierung nun unbedingt mehr Menschen in die Wahllokale bringen als jene 7,2 Millionen. Sie braucht eine Rechtfertigung für ihr Vorgehen – vor dem Volk, aber auch vor der Welt. 19,4 Millionen Venezolaner sind wahlberechtigt, eine Wahlpflicht gibt es nicht. Zumindest nicht offiziell.
Allerdings wissen öffentliche Angestellte, Sozialhilfeempfänger und all jene, die Wohnungen vom Staat bewohnen, Pensionen oder preisgünstige Lebensmittelpakete beziehen, was diesen Sonntag von ihnen erwartet wird. „Wer nicht abstimmen geht, verrät die Revolution“, sagte Diosdado Cabello, der nicht nur wortmächtige Hardliner der Regierungsfraktion. „Wer hier am Sonntag nicht votiert , darf sicher sein, dass er am Montag entlassen wird“, drohte ein Abteilungsleiter der staatlichen Ölfirma PDVSA versammelten Arbeitern. „Glauben Sie mir, das ist kein Spiel“, versicherte der Manager, dessen Ansprache von einem der Angestellten gefilmt und ins Internet gestellt wurde.
„Angstmache wird hier zur Staatspolitik“, sagt Roc´ıo San Miguel, Direktorin der Nicht-Regierungsorganisation Control Ciudadano. „Wie niemals zuvor werden jetzt hungrige und um ihren Arbeitsplatz fürchtende Menschen eingeschüchtert.“Viele Staatsangestellte wurden gar aufgefordert, mindestens zehn Bekannte und Verwandte zur Wahl zu bewegen, sonst drohe der Verlust des Arbeitsplatzes. Die Menschenrechtsgruppe Provea hat mehr als 40 konkrete Fälle von solchen Erpressungen dokumentiert und veröffentlicht.
Auch wenn eine große Mehrheit der Bevölkerung ihre Pläne ablehnt, besitzt die Regierung zwei mächtige Druckmittel: die große Zahl der von ihr Abhängigen und die allgemeine Misere in einer Republik, in der mehr als 93 Prozent nicht mehr genug verdienen, um Lebensmittel zu kaufen.
Mehr als fünf Millionen Menschen beschäftigt der venezolanische Staat, und mehr als acht Millionen Bürger bekommen die Pakete des von den Militärs organisierten Lebensmittelprogramms CLAP: Aus vier Packungen Reis, drei Kilo Nudeln, jeweils zwei Kilo Maismehl, Bohnen, einem Kilo Zucker und Linsen, einem Liter Öl, 500 Gramm Milchpulver, sechs Dosen Thunfisch sowie zwei Flaschen Ketchup besteht die Überlebensration, die vor allem arme, meist weibliche Venezolaner einmal im Monat beziehen, gegen die Vorlage ih- res „Carnet Patria“. Dieser „Vaterlandsausweis“ist eine Plastikkarte, die auf der Vorderseite Foto und persönliche Daten verzeichnet und auf der Rückseite einen QR-Code (Quick-Response, also einen verbesserte Strichcode) sowie zwei lange Nummern. Manipulationsverdacht. Massiv betrieb die Regierung in den letzten Monaten die Ausgabe des Sozialausweises an weite Teile der Bevölkerung, angeblich wurden bereits 15 Millionen Bürger registriert. Nun stellte der Präsident selbst klar, warum: „Von allen Karteninhabern werden wir wissen, ob sie ihre Stimme abgeben“, sagte Maduro auf der PSUV-Schlusskundgebung. Tatsächlich sollen bei der Wahl sowohl die Personalausweise wie auch die VaterlandsKarten eingelesen werden. „Es ist ein Kontrollmechanismus“, erklärte auch der Hardliner Cabello. „Er erlaubt uns eine direkte Einschätzung der Lage und eröffnet die Möglichkeit zur Mobilisierung, wenn nötig.“Damit spielt er auf eine seit Jahren praktizierte Technik der Chavisten an: Sie lassen ab dem frühen Nachmittag vermeintliche Drückeberger suchen und mit deutlichen Argumenten in die Wahllokale verfrachten.
Einen massiven Manipulationsverdacht streute die Opposition in den sozialen Netzen: Die beiden langen Nummern auf der Rückseite der VaterlandsKarten entsprächen den Ausweisnummern bereits verstorbener oder längst emigrierter Landsleute. Nun könne es passieren, dass viele Bürger mit dem Einlesen ihrer Karten nicht eine, sondern drei Stimmen abgäben, freilich ohne das überhaupt mitzubekommen.
Kontrollen über den Wahlablauf dürften dieses Jahr schwerer werden. Die Regierung verschärfte massiv die Einreisebestimmungen für ausländische Journalisten. Zudem stellen immer mehr Airlines ihre Verbindungen nach Venezuela ein. Diese Woche verkündete die kolumbianische Avianca nach 60 Jahren das Ende ihrer Flüge ins Nachbarland. Kolumbien, das derzeit zwischen 20.000 und 30.000 VenezuelaFlüchtlinge pro Tag aufnimmt, stellte am Freitagabend klar, dass es das Wahlergebnis vom Sonntag nicht anerkennen werde. Und die US-Regierung drohte Venezuela mit „harten und schnellen ökonomischen Schritten“.
»Wer nicht abstimmen geht, verrät die Revolution«, sagt Diosdado Cabello.