»Ab 2030 nur noch E-Autos zulassen«
Die Grünen hätten eine schwierige Zeit hinter sich, seien aber wieder zuversichtlich, sagt Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek. Warum Österreichs Flüchtlingspolitik heuchlerisch, Peter Pilz ein Plagiator und das Dieselprivileg überholt ist: ein Gespräch.
Haben sich die Grünen schon von ihrem Schock erholt? Ulrike Lunacek: Wir haben mittlerweile eine Kampagne auf die Beine gestellt, die wir Ende August präsentieren werden. Und ich beginne jetzt mit meiner Sommertour durch Österreich. Ich hätte gehofft, Sie sagen jetzt: von welchem Schock? Dann hätte ich drei aufgezählt. Erstens Eva Glawischnig, zweitens Peter Pilz und drittens die Umfragen. Ich leugne nicht, dass die Situation schwierig war. Aber bei mir überwiegt auf jeden Fall die Zuversicht. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie Mitte Mai von Eva Glawischnigs Rücktritt erfahren haben? Ich dachte: Schade, dass sie geht. Dann musste ich mich schnell entscheiden: Soll ich meine Arbeit im EU-Parlament, die ich sehr gerne mache, aufgeben, um Spitzenkandidatin zu werden? 36 Stunden später habe ich diese Frage mit Ja beantwortet. Vor allem, weil ich nicht mehr zuschauen möchte, wie SPÖ und ÖVP, angetrieben von der FPÖ, immer weiter nach rechts abdriften. Glauben Sie, dass die Partei eine Mitschuld an Glawischnigs Entscheidung hatte? Ich mache jetzt keine Vergangenheitsbewältigung. Meine Aufgabe ist es, die Grünen aus dieser schwierigen Phase herauszuführen und zu schauen, dass sie am 15. Oktober zweistellig werden. Ist die neue Aufgabenteilung – Sie Spitzenkandidatin, Ingrid Felipe Parteichefin und Albert Steinhauser Klubobmann – eine Lehre aus dem Glawischnig-Rücktritt, also ein Schutz vor Überlastungen? Na klar. Aber es geht auch darum, den Fokus stärker auf eine Rolle zu legen. Sie haben gesagt, dass Sie ein zweistelliges Ergebnis anstreben, aber nicht, dass Sie die 12,4 Prozent aus dem Jahr 2013 verbessern wollen. Ist das der neue grüne Realismus? Ein besseres Ergebnis wäre großartig. Aber mein Ziel ist die Zweistelligkeit. Und persönlich? Ministerin werden? Wenn sich Mehrheiten ausgehen, bin ich auf jeden Fall bereit, Koalitionsverhandlungen zu führen. Und ja, wenn Grüne in einer Regierung sind, werde ich gerne Ministerin. Wenn nicht, bin ich eben eine gute Oppositionsführerin. Über Wunschministerien wollen Sie vermutlich nicht sprechen. Sicher nicht. Wir gehen auch nicht um jeden Preis in eine Regierung. In welcher Konstellation könnte sich Ihren Berechnungen nach eine Regierungsbeteiligung der Grünen ausgehen? Das müssen Sie die Wähler fragen. Na gut, reden wir über die Inhalte. Warum sollte man die Grünen wählen? Wir sind die Einzigen, die gegen eine Spaltung der Gesellschaft antreten. Wir erleben gerade eine Entwicklung Richtung Entsolidarisierung, die zum Teil auch schon SPÖ und ÖVP erfasst hat. Können Sie ein Beispiel geben? Dieser Slogan – „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“– ist für eine sozialdemokratische Partei durchaus erstaunlich. Da wird Neid gefördert. Auch im Verhalten von Außenminister Sebastian Kurz gegenüber einigen EU-Staaten zeigen sich Spaltungstendenzen. Man kann wichtige Partner wie Deutschland, Griechenland und die EU-Kommission nicht einfach übergehen. Sie meinen die Schließung der Balkanroute. Haben Sie das für einen Fehler gehalten? Die Art und Weise, wie das stattgefunden hat, war ein Fehler. Wir Grüne stehen für ein geordnetes und humanes Flüchtlingsmanagement. Chaos – erinnern wir uns an die schrecklichen Bilder an den Grenzzäunen zu Mazedo- nien – hilft keinem Flüchtling, keiner Migrantin, keinem Betreuer. Und jetzt? Es gibt einen EU-Ratsbeschluss, wonach die Flüchtlinge nach Quoten verteilt werden. Aber Staaten wie Ungarn und die Slowakei halten sich einfach nicht daran. Wenn Beschlüsse nicht umgesetzt werden, dann bin ich dafür, dass säumige Staaten keine Förderungen mehr bekommen. Aber dafür müssen wir die EU-Verträge ändern. Derzeit sind Kürzungen nur im Betrugsfall erlaubt. Wo stehen die Grünen in der Debatte um die Mittelmeerroute? Es gibt zwei Dinge, die Österreich tun könnte. Erstens: Sofort Waffenexporte in kriegsführende Staaten stoppen. Im Vorjahr wurden im Widerspruch zum EU-Waffenkodex über 30.000 Kleinwaffen nach Saudiarabien exportiert, das mit Jemen Krieg führt. So lange wir das tun, ist es heuchlerisch zu sagen, wir nehmen keine Flüchtlinge mehr auf. Und zweitens? Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen. Die Menschen, die jetzt aus Westafrika nach Europa wollen, gehen weg, weil ihnen daheim die Lebensgrundlage fehlt. Wir brauchen einen fairen Handel mit diesen Ländern, also neue Abkommen, die beiden Seiten nutzen, nicht nur den europäischen Großkonzernen. Sie kennen das Beispiel mit den Paradeisern in Ghana? Nein. Auf den Märkten in Ghana werden subventionierte Paradeiser aus Europa angeboten. Das zerstört die lokale Produktion. Und dann wundern wir uns, wenn Menschen flüchten? Was halten Sie von Aufnahmezentren in Nordafrika? In Libyen? In den Lagern dort stehen Mord, Folter und Vergewaltigung an der Tagesordnung. Der Niger ist bitterarm. Und Tunesien, das einzige Land, das seit dem Arabischen Frühling funktioniert, sagt: Wenn, dann nur um viel Geld. Und ich sehe in Europa nicht die Bereitschaft, hier viel zu zahlen. Was wollen die Grünen gegen das Schlepperwesen unternehmen? Unser Vorschlag ist, das Botschaftsasyl wieder einzuführen. Wir brauchen einen legalen Fluchtweg nach Europa. Die EU hat in fast jedem Staat dieser Welt eine Botschaft. Da könnte man geordnete Verfahren durchführen. Nicht alle werden Asyl bekommen, aber alle können es versuchen. Den Grünen wird immer unterstellt, dass sie alle Flüchtlinge ins Land lassen wollen. Aber das stimmt nicht. Wir wollen ein System, in dem alle wissen, woran sie sind. Aber gegen die Obergrenze haben die Grünen nach wie vor eine Allergie. Österreich hat ganz viel geleistet, wie Deutschland und Schweden. Aber bitte hören wir mit dieser Schlagwortpolitik auf, wie sie der ÖVP-Chef praktiziert. Kommen wir doch zu den Grünen zurück. In wirtschaftspolitischen Fragen fehlt ihnen oft das Alleinstellungsmerkmal. Oder können Sie diese These widerlegen? Ich kenne keine Partei, die für Mietzinsobergrenzen eintritt. Für Wien haben wir etwa 7,50 Euro netto pro Monat und Quadratmeter vorgeschlagen, um jenen zu helfen, die mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Diese soziale Schieflage ist ja auch für die Wirtschaft schlecht, weil weniger Geld übrig bleibt, um etwas zu kaufen. Die SPÖ will eine Erbschaftssteuer mit einer Freigrenze von einer Million Euro. Die Liste Pilz schlägt 500.000 vor. Und die Grünen? Entschuldigung, das hat sich Peter Pilz abgeschaut. Oder Bruno Rossmann hat sein Konzept zur Liste Pilz exportiert. Aber dieses Konzept hat er als grüner Budgetsprecher ausgearbeitet, es ist seit Langem Parteilinie: 500.000 Euro Freigrenze, Ausnahmen bis eine Million, damit kein Betrieb zusperren muss. Sind Sie sauer auf Peter Pilz? Ich mache jetzt Wahlkampf. Wie werden sich die Grünen von der Liste Pilz abgrenzen? Er ist ein Konkurrent wie viele andere. Aber meine Hauptgegner sind SPÖ und ÖVP, die vieles verabsäumt haben. Wenn die Grünen in der Regierung wären, wäre in Österreich vieles anders.
Ulrike Lunacek
wurde am 26. Mai 1957 in Krems geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie in Gföhl und in Amstetten, ehe die Familie nach Wien zog. In Innsbruck studierte Lunacek später Dolmetsch – Englisch und Spanisch. Nach dem Abschluss im Jahr 1983 arbeitete sie als Deutschlehrerin für Flüchtlinge, Dolmetscherin und Journalistin.
In die Politik
ging Lunacek 1996, als Bundesgeschäftsführerin der Grünen. Drei Jahre später wurde sie in den Nationalrat gewählt, wo sie zehn Jahre blieb, unter anderem als außenpolitische Sprecherin der Grünen. 2009 wechselte Lunacek ins EU-Parlament. Bei der Europa-Wahl 2014 erreichte sie als Spitzenkandidatin der österreichischen Grünen mit 14,5 Prozent das beste Ergebnis, das die Partei bei einer bundesweiten Wahl je hatte. Am 1. Juli 2014 wurde sie zu einer der Vizepräsidenten des EUParlaments gewählt.
Nach dem Rücktritt
von Eva Glawischnig Mitte Mai 2017 entschlossen sich die Grünen zu einer Aufgabenteilung: Ulrike Lunacek wurde Spitzenkandidatin für die Nationalratswahl am 15. Oktober, Ingrid Felipe Bundessprecherin und Albert Steinhauser Klubobmann. Warum schaffen es die Grünen nie in die Regierung? Ist ihr Programm nicht breitenwirksam genug? Wir sind in sechs Landesregierungen, das hängt also von den Mehrheiten ab. 2002 wäre es im Bund fast so weit gewesen, aber dann wollte Wolfgang Schüssel nicht. 2013 war die Ausgangslage sicher einfacher. Aber es ist schon so, dass unsere Themen interessieren. Wir werden Umweltfragen in den Vordergrund stellen. Jeder weiß, wie schädlich CO2-Ausstoß und Feinstaub sind. Sie touren im Wahlkampf mit einem Dieselbus durch Österreich, weil der Elektrobus nicht so weit fährt. Lässt das die Klimapolitik der Grünen nicht unglaubwürdig erscheinen? Hätten wir mitregiert, würde es flächendeckend Elektrotankstellen geben. Aber im Moment geht sich eine Tour durchs ganze Land einfach nicht aus. Auch nicht mit Öffis. Insofern ist der Dieselbus das geringste Übel. Aber die Ansage ist ja nicht, alle Dieselautos von heute auf morgen aus dem Verkehr zu ziehen. Sondern? Unsere Forderung ist, Verbrennungsund Dieselmotoren ab 2030 nicht mehr zuzulassen und auf E-Autos umzusteigen. Im ersten Schritt sollte das Dieselprivileg abgeschafft werden: Diesel wird gleich teuer wie Benzin und die Mehreinnahmen fließen in Klimaprojekte. Das wird die grüne Klientel gerne hören. Aber was, wenn einige Stammwähler zum Schluss kommen, dass sie SPÖ wählen müssen, um Kurz als Kanzler zu verhindern? Schauen wir einmal. Es sind noch neun Wochen bis zur Wahl. Und danach? Wird die grüne Basisdemokratie reformiert, als Reaktion auf den Fall Pilz? Peter Pilz hat das mitbegründet und ist 31 Jahre gut damit gefahren. Über Reformen kann man immer nachdenken, aber im Moment sehe ich da keinen Handlungsbedarf. Das ist ein demokratischer Prozess, der uns von den anderen Parteien unterscheidet. Mit dem Nachteil, dass verdiente Abgeordnete durchfallen können. Das passiert manchmal, das tut mir auch leid. Dafür kommen neue Leute nach, die auch kompetent sind.