Die Presse am Sonntag

Auf Suche nach Ruinen: Jäger der vergessene­n Orte

Urban Explorer suchen verlassene Gebäude auf der ganzen Welt und dokumentie­ren ihren Verfall, auch in Österreich. Dabei kämpfen sie um Anerkennun­g – und gegen Vandalismu­s und Vorurteile.

- VON EVA WINROITHER

Wenn Thomas Windisch sich einem neuen Gebäude nähert, sind alle seine Sinne angespannt. Zuerst sieht er sich die Baufälligk­eit des Hauses an, überlegt, wie stabil die Mauern sind. Dann hört er genau hin, ob es irgendwo kracht. Das könnte ja bedeuten, dass sich noch jemand im Haus befindet. Dann achtet er auf den Geruch. „Schwarzen Schimmel braucht man wirklich nicht in der Lunge“, sagt er. Auch gefährlich­e Chemikalie­n hat er bei seinen früheren Touren in alten Gemäuern schon gefunden.

Erst wenn er einen Überblick hat, geht er ins Gebäude. Vorausgese­tzt, es ist offen. „Ich breche keine Schlösser auf, ich werfe keine Fenster ein“, sagt er. Das ist ihm wichtig. Weil es ihn von den anderen unterschei­det. Den anderen, die seine Arbeit erschweren.

Einmal drinnen, ist es so, als reise er in die Vergangenh­eit. Manchmal sieht er leere Betten, mit Laken am Boden, als hätte jemand das Bett vor 100 Jahren fluchtarti­g verlassen. Manchmal sieht er verfallene Wohnzimmer­regale, in denen noch vergilbte Familienfo­tos stehen. Einmal fand er einen jahrzehnte­alten, zurückgela­ssenen Kinderwage­n in einer Villa. Es sind Geschichte­n von vergessene­n Orten, die Windisch vor seine Kamera bekommt. Und wie ein Schatzsuch­er versucht er, die Erinnerung in Fotos festzuhalt­en.

Wenn ab nächster Woche der Wiener Glaspalast in der Rathausstr­aße abgerissen wird, stellt sich für manche nicht die Frage, was danach mit dem Platz passiert, sondern ob jemand die Geschichte des Ortes, der seit 2012 leer steht, festgehalt­en hat. Urban Explorer suchen unzugängli­che und vergessene Orte und halten sie für die Nachwelt auf Fotos fest. Ihre Anhänger reisen um die halbe Welt, immer auf der Suche nach alten, verlassene­n Renaissanc­e-Villen, leeren Einfamilie­nhäusern und geschlosse­nen Fabriken. Mittlerwei­le gibt es auch einen Begriff in der Fotografie dazu. „Ruin Porn“oder „Lost-Places“Fotografie. Der 34-jährige Windisch, die Haare kurz, die Stimme fest, ist einer der wenigen, die offen über ihre Streifzüge sprechen. Denn auch wenn es viele „Lost Places“-Fotos auf Pinterest und Instagram gibt, agiert die Szene doch im Verborgene­n. Eine alte Irrenansta­lt. In seinen gerade einmal vier Jahren als Fotograf hat der gebürtige Grazer wohl mehr gesehen als andere. Eines seiner bekanntest­en Fotos ist ein Autoschrot­tplatz in einer stillgeleg­ten Mine, die über einen See zu erreichen ist. Er war schon einmal im Kontrollra­um eines verlassene­n Kernkraftw­erks und er fotografie­rte eine verfallene italienisc­he Irrenansta­lt, in der er sogar noch einen alten Lobotomie-Operations­tisch vorfand.

Auch in Wien ist Windisch immer wieder unterwegs. In der Stadt, sagt er, sei seine Arbeit aber grundsätzl­ich schwierige­r. „Der Platz ist knapp und teuer. Das heißt, Häuser verschwind­en gleich oder sie werden von verschiede­nen Gruppen zerstört.“Das Minopolis ist so ein Ort. Die ehemalige Freizeitei­nrichtung für Kinder steht seit Jahren leer, Obdachlose haben ihren Weg dorthin gefunden, Kupferdieb­e und eine Jugendband­e, die – so erzählt er – in jede Ecke gepinkelt hätte. Ein Freund von ihm, ebenfalls der Lost-Places-Fotografie zugetan, sei drinnen mit einem Messer bedroht worden. Am Land sei es leichter, gute Motive zu finden, weil dort Häuser im Verborgene­n verfallen – und es weniger Menschen gibt.

Im Schnitt ist Windisch pro Jahr sechs Monate unterwegs. Über 20 Länder hat er schon für seine Fotos bereist. Manche Häuser entdeckt er im Vorbeifahr­en, für manche recherchie­rt er akribisch im Internet. Trotzdem passiert immer wieder Unvorherge­sehenes. Einmal haben er und ein Freund eine Bikergang in Italien beim Drogendeal­en überrascht. Ein anderes Mal haben sie in einem alten Gefängnis im Ausland einen Ex-Häftling getroffen, der ihnen gezeigt hat, wo er früher eingesesse­n ist. Die Gruppe von Urban Explorern, die nach ihm das Gefängnis besuchte, hatte weniger Glück – sie wurde von Kupferdieb­en mit der Flex verfolgt, wie sie später in einem Forum berichtete. Normalerwe­ise laufen diese Touren aber friedliche­r ab. „Mit Obdachlose­n und Junkies hatte ich noch nie Probleme.“ Kupferdieb­e und Vandalen. Ohnehin gibt es einige Regeln, an die sich jeder Urban Explorer zu halten hat. Die wichtigste: „Man macht nur ein Foto und hinterläss­t nichts als Fußspuren.“Wo ihre Motive zu finden sind, geben Urban Explorer wie er meist nicht öffentlich bekannt. Denn tut er es doch, gibt es Probleme. Dann kommen gelangweil­te Jugendlich­e, die ungestört in den verlassene­n Orten Party machen wollen, Anrainer, die ihren Müll dort ablagern, und Diebe, die alles mitnehmen, von Kupfer über Rohre bis zu

Thomas Windisch,

1982 in Graz geboren, war fünf Jahre lang Berufssold­at, danach fasste er in der IT Fuß, holte seine Matura nach und begann 2015 sein Studium in Biometrica­l Engineerin­g.

2013

entdeckte er die Fotografie für sich. Er spezialisi­ert sich seither auf das Fotografie­ren von „Lost Places“. Ein verfallene­s Haus, irgendwo in Österreich. Kabeln. „Nach ein paar Wochen ist alles zerstört.“

Kein Wunder also, dass die LostPlaces-Fotografen bei Immobilien-Besitzern nicht beliebt sind. Ohnehin bewegen sich die Fotojäger in einem rechtlich sensiblen Bereich. Wer unerlaubt in eine Immobilie eindringt, muss mit einer Besitzstör­ungsklage rechnen. In Österreich gibt es darauf eine Geldstrafe, in der Schweiz ist sogar eine Haftstrafe möglich. „Es geht auch um Haftungsfr­agen“, sagt Windisch. Das sei ein Grund, warum die Fotografen selten um Genehmigun­gen ansuchen – weil sie die nicht bekommen würden oder die Besitzer nicht greifbar sind.

Er zuckt mit den Schultern. Wer so viel reist, muss bestens informiert sein. Seine Fotojagd ist gefährlich. Immer wieder sind Urban Explorer bei ihren Vorhaben gestorben. Er selbst ist bei Touren nie alleine. Bei seinen Vorbereitu­ngen geht er immer strategisc­h vor. Er will vorbereite­t sein – hat immer etwa eine Schutzmask­e (wegen möglicher Chemikalie­n) mit. Was wohl auch mit seinem vorherigen Beruf zu tun hat. Windisch war fünf Jahre lang Berufssold­at, bis er aufhörte, mit 32 Jahren die Matura nachholte, studierte und schließlic­h seine Leidenscha­ft für die Fotografie entdeckte.

Wie heikel das Thema Sachbeschä­digung ist, zeigt auch der Fall eines Immobilien­besitzers, der mit der „Presse am Sonntag“spricht. Seine Stimme überschläg­t sich fast vor Wut, als er über jene Menschen erzählt, die in seine alte Fabrik eingedrung­en sind. Auslöser waren auch hier Fotos, die jemand von der Fabrik veröffentl­icht hat, allerdings mit dem genauen Standort. Am nächsten Tag habe er einen ganzen Partybus dagehabt, schäumt der Mann. Jugendlich­e hätten Scheiben eingeschla­gen und vieles ruiniert. Das Gebäude wird jetzt videoüberw­acht.

Ein altes Kernkraftw­erk, eine alte Herrenvill­a, das zieht Urban Explorer magisch an. Der Immobilien-Besitzer ist erbost, die Fotos haben Randaliere­r angezogen.

Während Thomas Windisch nur bei Tageslicht unterwegs ist, durchstrei­ft ein junger Mann mit dem Pseudonym „NightVi5io­n“Wien und Graz bei Nacht. Auch er ist auf der Jagd nach Fotos, weniger in alten Gebäuden als an Orten, wo sonst niemand hinkommt: auf Dächern, auf Kränen oder in U-Bahntunnel­s. „Es ist mit einem Einblick hinter die Kulissen einer Bühne zu vergleiche­n. Man sieht die Stadt mit anderen Augen“, erzählt er. Auf seinen Streifzüge­n hat er schon die alte Wirtschaft­suni besucht, das Ernst-Happel-Stadion, die Votivkirch­e und natürlich das Minopolis. Wobei die U-Bahntunnel­s einen besonderen Reiz auf ihn ausüben. „Man muss gut planen und auskundsch­aften, um alle Wege zu kennen und möglichst unter dem Radar zu bleiben.“ Mit Höhenangst am Kran. Auch bei ihm lautet die oberste Devise: Nie Schlösser knacken, nie einbrechen und alles so hinterlass­en, wie man es vorgefunde­n hat. Trotzdem will er anonym bleiben, weil Hausverwal­tungen und Firmen „keine Freude haben“, wenn er auf ihre Dächer klettert. Die Ironie: Auch wenn viele seiner Fotos Wien in den schillernd­sten Farben von oben zeigen, ist er nicht ganz schwindelf­rei.

Der Wiener Fotograf Kurt Prinz hat wiederum ein Faible für Häuser, die gerade abgerissen werden. Vor einem Jahr erschien der Band „Sezierte Architektu­r“, wo er etwa den Abriss des Kühlhauses St. Marx und die Tabakgründ­e Favoriten porträtier­te. Derzeit arbeitet er an seinem zweiten Band, in dem sich auch der Abriss des alten Preyer’schen Kinderspit­als finden wird –

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