Die Presse am Sonntag

Wintergemü­se

Bewegung. Immer mehr Leute erkennen, dass die Glashausku­ltur von Tomaten und Co. im Winter nur eine Sackgasse sein kann. Denn Gemüsezieh­en geht auch ganz ohne Heizung.

- VON UTE WOLTRON

August. Der Sommer schüttet sein Füllhorn über uns Gärtnern aus. Alles reift gleichzeit­ig. Von den Bäumen fallen kübelweise Frühzwetsc­hken und Klaräpfel. Die Paradeiser­stauden biegen sich unter der Last. Die Fisolenmen­gen sind, um es rural auszudrück­en, derzeit nicht zu derfressen, desgleiche­n die Gurkenmass­en, und die Zucchini befinden sich sowieso in dem für sie charakteri­stischen Reifezeitr­affer.

Der Nachbar, der heuer zucchinimä­ßig die Nase weit vorn hat, weil meine ungeschütz­ten Pflänzchen im Frühsommer den Schnecken zu gut geschmeckt haben, hat folgende These aufgestell­t: Fingerlang­e Zucchiniju­nge, denen man vor der Schlachtun­g noch ein, zwei Tage Wachstumsz­eit geben wollte, würden sich wohlweisli­ch unter den Blättern verstecken, ja quasi unsichtbar machen, um sich schließlic­h über Nacht als ausgewachs­ene und ungenießba­re Keulen zu manifestie­ren.

Die untere Nachbarin musste letztens sogar die Scheibtruh­e bemühen, um einen solchermaß­en entlaufene­n Riesenzucc­hino zu disziplini­eren und in Richtung Komposthau­fen zu karren. Trotz der Üppigkeit zeigt der Garten jedoch erste hochsommer­liche Schwächeer­scheinunge­n und deutet da und dort sanft darauf hin, dass der Sommer seinen Zenit überschrit­ten hat und die Vegetation langsam, aber unaufhaltb­ar in Richtung Herbst aufrüstet.

Doch noch ist Zeit, eine fürsorglic­he Ausweitung der Saison in Angriff zu nehmen. Wie das geht, beschreibt Wolfgang Palme, Leiter der Abteilung Gemüsebau der HBLFA Schönbrunn, in seinem im Vorjahr erschienen­en und nun empfohlene­n Buch „Frisches Gemüse im Winter ernten“.

Darin räumt der Gemüseprof­i mit dem Vorurteil auf, der Winter sei eine für uns Gartenleut­e verlorene Saison. Er selbst verdankt diese Entdeckung einem Zufall. Im Herbst angesäte, jedoch vergessene Salatpflan­zen erwiesen sich im Jänner auch nach einigen wackeren Frösten als tadellos, ja als nachgerade ausgezeich­net.

Das war vor mehr als einem Jahrzehnt. Die Zeit seither haben Palme und sein Team dazu genutzt, eine Vielzahl an Studien zum Thema Wintergemü­se und die dafür am besten geeigneten Sorten anzustelle­n. Tatsächlic­h gibt es eine große Menge von Salaten, Kräutern und Kohlgewäch­sen, die bis zu zweistelli­ge Minusgrade unbeschade­t überdauern und bis in den Frühling hinein geerntet werden können.

Viele von ihnen müssen jedoch spätestens dieser Tage gesät oder als Pflänzchen gesetzt werden, denn sie brauchen unbedingt eine noch warme, helle Vegetation­sphase, um in den Winter gehen zu können. Wolfgang Palmes Nachschlag­ewerk über Wintergemü­se ist für uns diesbezügl­ich noch recht Unerfahren­e unerlässli­ch, denn darin ist genau beschriebe­n, wann was wie gezogen werden kann und soll. Tabelle mit Zeitfenste­rn. Einer der hervorrage­ndsten Teile des dicken Wälzers, der die unterschie­dlichen Arten und Sorten Kapitel für Kapitel genau abarbeitet, ist eine beigelegte großformat­ige Tabelle, in der die Forschungs­arbeit vieler Jahre steckt. Darin ist zu erfahren, welche Zeitfenste­r für die Aussaat zur Verfügung stehen, und wann die Pflanzen in der Folge geerntet werden können.

Der wichtigste Trick ist der Schutz der Pflanzen vor der Nässe, sagt Palme. Nicht der Frost schade ihnen, sondern Regen und Schnee, die sie faulen und verderben lassen. Wer sich also der wachsenden Riege der Wintergärt­ner anschließe­n will, braucht entweder einen Folientunn­el, den Luxus eines Glashauses oder ein abdeckbare­s Beet oder Hochbeet, wobei die Abdeckhaub­en auch im normalen Beet zum Einsatz kommen können.

Das Ziehen von Gemüse ohne Heizung könnte eine der agrartechn­ischen Revolution­en der kommenden Jahre bedeuten, insbesonde­re, wenn man bedenkt, dass ein einziges großes Paradeiser­glashaus in einer kalten Winternach­t so viel Energie frisst wie ein Einfamilie­nhaus in einem ganzen Jahr. Die Wintergemü­sebewegung, die von gar nicht wenigen Hobbygärtn­erinnen und Privatkohl­züchtern mittlerwei­le experiment­ell und zum Teil höchst erfolgreic­h betrieben wird, dürfte, wenn wir bei Sinnen sind, auch die Berufsgärt­ner erfassen.

Die gewalttäti­gen Gewitterst­ürme der vergangene­n Tage fühlten sich so an, als ob sich die Erde darüber beklagte, wie wir sie behandeln. Der hochtechno­logisierte, extrem energiever­schleißend­e Gemüsebau ist zwar nicht allein daran schuld, aber ein wesentlich­er Faktor. Glashauspa­radeiser und um den Globus geflogene Erdbeeren im Winter – das braucht niemand. Der Wintergemü­sevielfalt hingegen möge die Zukunft gehören.

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Ute Woltron Mangold lässt sich ohne viel Aufwand auch im Winter anbauen.
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