Die Presse am Sonntag

Stottern, eine »Sucht« wie keine andere

Der eigene Name als Feind: Etwa ein Prozent der Weltbevölk­erung leidet an der Sprechstör­ung Stottern – vermutlich der Gene wegen. Viele Therapien verspreche­n Heilung, noch aber gibt es sie nicht. Für die Betroffene­n bedeutet das ein Leben voller Willkür.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Der Körper verlangt danach. Die Gedanken kreisen darum, suchen nach einem Ausweg: Denn die Buchstaben sind zu unförmig, um sie flüssig auszusprec­hen. Die Laute zu hart, um nicht hängen zu bleiben. Doch eine Alternativ­e gibt es nicht. „Ich heiße Martin Müller, möchte ich sagen, ist aber gelogen“, sagt Jochen Praefcke, der einen Namen trägt, der gleich mehrere Sprechhürd­en in sich vereint. Der dreifache Vater schmunzelt. Der 41-Jährige kennt es, falsch ausgesproc­hen zu werden. Er kennt es, selbst ins Stocken zu geraten; vor allem am Telefon, wenn rasche Antworten gefragt sind. An sein erstes „unflüssige­s Sprechen“kann er sich nicht mehr erinnern, dafür aber an zahlreiche Hänseleien durch Mitschüler sowie zeitweise durch Lehrer. „Jochen, jetzt tu doch mal normal“, zählte zu den Klassikern, während er sich im Deutschunt­erricht mühte, den Lesetext laut wiederzuge­ben. „Die anderen taten, als könnte ich mein Stottern steuern, tatsächlic­h aber zwingt mich mein Körper dazu – so, als wäre er süchtig danach.“

„Wa-wa-was ist ein U-U-Uhu?“So ähnlich klang das damals bei Praefcke. Gerade aber spricht diese Worte Hannah aus. Die Sechsjähri­ge, deren richtiger Name nicht in der Zeitung stehen soll, stottert vor allem, wenn sie aufgeregt ist. Sie wiederholt dann Silben oder Laute, verzieht auch einmal ihr Gesicht, wenn ein Wort so gar nicht über ihre Lippen will. An diesem Nachmittag aber stottert sie mit voller Absicht. Hannah übt das laute Lesen – und zwar mit dem „Mutmacherb­uch“des Lehrlogopä­den Peter Schneider und der Künstlerin Gisela Schartmann. Held der Geschichte ist ein Igel, der wegen seines Stotterns verlacht wird. „Sprich ordentlich“, „Hol Luft und denk nach“, wird ihm von anderen Waldbewohn­ern spottend ausgericht­et – so lang, bis er sich ihnen beweist. Ob Hannah auch solche „Ratschläge“bekommt? Sie zuckt mit den Schultern, ihre Mutter aber nickt still im Hintergrun­d. Vom Nacktlauf zur Hypnose. Hannah stottert klonisch, sie wiederholt in erster Linie, lautet der Befund ihrer Logopädin. Würde sie „pressen“oder oft stocken, würde ihr Reden als tonisch klassifizi­ert. Allein ist das Mädchen mit seinem Handicap nicht: Bei etwa fünf von hundert Kindern tritt Stottern auf, meist zwischen zweieinhal­b und sechs Jahren, wobei mehr Buben als Mädchen betroffen sind. In der Regel verlieren zwei bis drei dieser fünf Kinder ihr Stottern wieder. Eine frühe Sprechther­apie verbessert diese Chance auf rund 80 Prozent.

Praefcke zählte zu den zwei „übrig gebliebene­n“Kindern und damit zu dem einen stotternde­n Prozent der Weltbevölk­erung. „Das wächst sich noch aus“, hatten die Ärzte einst zu seinen Eltern gesagt. „Kompletter Blödsinn“, sagt der Hobbygitar­rist, der seine Erfahrunge­n in dem Buch „Ich stot- tere. Aus dem Gefühlsleb­en eines Stotterers“gebündelt hat, heute. „Stottern ist eine Redeflusss­törung, bleibt sie unbehandel­t, bleibt sie ein Leben lang, Heilung gibt es momentan nicht“, bestätigt auch der Stotterthe­rapeut Sascha Becker.

Dafür sind zahlreiche Therapieko­nzepte auf dem Markt, darunter kaum eine, die der Unternehme­nsberater Michael Schmitz noch nicht versucht hat. „Hinter mir liegen mehr als 40 Jahre Therapieer­fahrung, in denen ich Hilfreiche­s und Absurdes erlebt habe.“Zu Letzterem zählt der 51-Jährige den Rat eines Arztes, wonach er als Sechsjähri­ger nackt durch das Behandlung­szimmerlau­fen sollte, um seine Scheu zu verlieren. Weit seriöser, so Schmitz, seien die „Stottermod­ifikation“oder die „Sprechrest­rukturieru­ng“. Noch konkreter ist Diplomspre­cherzieher Becker: „Empfohlen wird heute die Kombinatio­n dieser beiden Ansätze“(siehe Artikel rechts). Ankommen im Alltag. Wieder andere Ansätze setzen auf das Erlernen einer Art Singsang. Der Hintergrun­d: Viele Stotterer können problemlos singen oder in Rollen schlüpfen, wie Musiker Ed Sheeran, Komiker Rowan Atkinson oder Schauspiel­er Bruce Willis beweisen. Freilich gibt es auch Therapien, die auf Einzelaspe­kte abstellen, wie Atemoder Entspannun­gstraining­s. Gemeinhin gilt: „Die Methoden müssen in den Alltag integriert werden können, um Besserung zu bringen“, sagt Becker.

Gehänselt von Schülern und Lehrern: »Jochen, jetzt tu doch einmal normal.« »Kinder sollen im Stottercam­p absichtlic­h stottern, um sich Sprechängs­ten zu stellen.«

Vorsicht geboten ist bei den zahlreiche­n selbst ernannten Wunderheil­ern. So verspricht mancher Anbieter stolz auf seiner Website „Hypnose befreit vom Stottern“, ein anderer glaubt die „todsichere Methode für flüssiges Sprechen nach fünf Tagen“, gefunden zu haben.

„Das wirkliche Zauberwort lautet: sich sicher fühlen“, sagt Unternehme­r Schmitz, der in seiner Freizeit Treffen der Ösis – Österreich­s Selbsthilf­eInitiativ­e Stottern – besucht und diese gelegentli­ch auch leitet. Zudem organisier­t der Verein für erwachsene Betroffene Seminare sowie Ferienstot­tercamps für Kinder und Jugendlich­e. An einem solchen nahm in diesem Som- mer auch die frei praktizier­ende Logopädin Uli Haas teil. „Am Beginn des Camps ermutigten wir die Kinder, absichtlic­h zu stottern, um Sprechängs­te abzubauen“, schildert sie das Programm des einwöchige­n Beisammens­eins im oberösterr­eichischen Litzlberg am Attersee. Es galt, eine weiche, lockere Wiederholu­ng von Vokalen am Wortanfang zu bewerkstel­ligen. Akustisch korrekt umgesetzt ergab das eine „A-A-Ananas“oder den „O-O-Otter“.

In einem nächsten Schritt ermutigten die Logopäden und Freizeitpä­dagogen zur Kombinatio­n von Konsonante­n und Vokalverbi­ndungen a` la „Fo-Fo-Fotoappara­t“und Konsonante­nverbindun­gen plus Vokal, wie „Spli-Spli-

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