Wenn die Laute im Hals stecken bleiben
Von Fluently Shaping bis Lidcombe: Stottern flüssiger machen. Sprechtherapien sollen
Splitter“. Nach etwa drei Tagen wurde aus dem absichtlichen Stottern so ein modifiziertes Sprechen, das bedeutet: „Die Kinder haben ihr Stottern und das der anderen bewusst wahrgenommen, Hintergründe erfahren und Unterschiede bemerkt. Ihr neues Wissen haben sie gemeinsam in ein Theaterstück mit dem Titel: ,Das verlorene Zauberbuch‘ gepackt, das am vorletzten Camptag aufgeführt wurde“, erzählt Haas, die als wesentlichste Veränderung bei den Teilnehmern die bewusste Reduktion des Sprechtempos, weichere Stimmeinsätze und „mehr Sprechmut“bemerkt hat. Georg Goller, Initiator des gemeinnützigen Vereins, ergänzt: „Bei dem herrschenden Zeit- und Leistungsdruck ist es wichtig, individuelle Strategien zu entwickeln, um den Belastungen standzuhalten und Freiräume für die Individualität zu entwickeln.“ Mehr Männer betroffen. „Lang durfte mich niemand auf meine Sprechblockaden ansprechen“, gesteht auch Medizinstudentin Sophie-Christine Feige. Erst mit zwölf Jahren erfuhr sie von den Stottercamps, wo sie erstmals auf andere stotternde Teenager traf („Ich war kein Außenseiterin mehr“). Dort wuchs das Selbstvertrauen von Feige, die mittlerweile den Thriller „Ver-ververschone mich“mit stotternder Protagonistin verfasst hat. „Wir übten Sprechtechniken, sagten Gedichte auf und führten Sketches vor, sprachen Passanten an“, erinnert sie sich. „Ich hatte endlich Freude am Sprechen und
Jochen Praefckes
Gedanken kreisten jahrelang – vom Aufstehen über die Alltagsplanung bis zum Einschlafen – um das Thema stottern. Seine Erlebnisse fasste er im Buch
»Ich stottere. Aus dem Gefühlsleben eines Stotterers«
zusammen. Heute hält er auch Vorträge. fühlte keinen Stress mehr.“Zurück in der Schule traute sie sich dann auch, Referate zu halten oder ihre Aufgaben vorzulesen.
So vielseitig, wie die Therapieangebote, so unterschiedlich sind auch die Arten des Stotterns. „Stottern ist höchst individuell“, sagt Therapeut Becker. Zwar gebe es ähnliche Symptomatiken wie Wiederholungen, das Anstauen von Lauten/Silben oder Stimmlippenblockaden, ihre Ausprägungen variieren aber stark. „Manche bringen plötzlich keinen Ton mehr heraus, andere brauchen zwei, drei Anläufe und sprechen dann stotterfrei.“ Arten des Stotterns. Die Forschung unterscheidet noch feiner. Laut dem aktuellen Bericht der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie meint „originär neurogenes syndromales“Stottern, dass Patienten etwa an Trisomie 21 (Downsyndrom, Anm.) leiden, die die Sprechplanung und -ausführung erschwert bis verunmöglicht. „Erworbenes“Stottern gehe indes auf eine Schädigung des Gehirns, etwa durch einen Unfall, zurück, während „psychogenes“Stottern durch Psychotraumata ausgelöst würde. Rätselhafter das „originäre“Stottern. Hierbei handelt es sich gemäß dem Bericht um Redeschwierigkeiten, die in der Kindheit ohne erkennbare äußere Ursachen auftreten. Vermutet werden diese allerdings in den Genen. So wiesen Zwillings-, Adoptions-, Familienstudien auf eine hohe Erblichkeit der Sprechstörung hin. „Die Vererbbarkeit liegt für stotternde Erwachsene zwischen 70 und über 80 Prozent“, so der Bericht. Besonders hoch sei das Risiko für Söhne stotternder Frauen. Weiters beträgt der Prozentsatz von Männern, die im Lauf ihres Lebens stottern, bei Vätern, Brüdern oder Söhnen von Stotternden etwa 20 Prozent. Zwischen weiblichen Verwandten hingegen ist die familiäre Häufung erheblich geringer.
„Stottern hat nichts mit verminderter Intelligenz zu tun, doch durch die häufige Stigmatisierung in den Medien, etwa Wortspiele a` la ,Der Wirtschaftsmotor stottert‘, werden wir nach wie vor für weniger intelligent gehalten“, bedauert Schmitz. Die Betroffenen würden oft gemobbt und müssten mehr leisten als normal Sprechende, um voll respektiert zu werden. Eine Ungerechtigkeit, auf die auch der Werbefilm „Aufblühen statt abtauchen“der Aktion Mensch aufmerksam macht, der die Ausgrenzung stotternder Kinder an Schulen thematisiert.
Autor Praefcke sieht in dem Spot einen Schritt in die richtige Richtung: „Noch sind Stotterer in Filmen immer die Blöden – und die Allerblödesten stottern und hauen sich auf den Kopf“, zählt er Streifen mit Bud Spencer, den „Tatort“oder die Verfilmung des Buchs „Tintenherz“auf. Nur ein einziger Film falle aus der Reihe: „The King’s Speech“, in dem Colin Firth König George VI. von Großbritannien mimt. „Das frustriert“, räumt er ein – „und es sorgt dafür, dass der Kreislauf von vorn beginnt: Man weiß, dass man stottert, will es verhindern und doch lässt einen der eigene Körper nicht – fast so, als leide man an einer Sucht.“ SophieChristine Feige fing mit sechs Jahren auf einer Geburtstagsfeier zu stottern an, mit zwölf Jahren begann sie eine Stottertherapie. 2017 veröffentlichte sie als Selfpublisher den Thriller »Ver-ververschone mich!« Derzeit absolviert sie in Wien ein Medizinstudium. „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“, soll einst Wilhelm von Humboldt gesagt haben. Doch was geschieht, wenn die Sprache zwar erlernt, aber die Lautbildung oder der Redefluss gestört ist? „Dann hat die Person einen Sprech- und nicht, wie umgangssprachlich oft falsch gemeint wird, einen Sprachfehler“, sagt Stottertherapeut Sascha Becker. Denn: „Eine Sprachstörung meint semantische Fehler wie falsche Zuschreibungen oder inkorrekte Grammatik.“Eine Sprechstörung betrifft den Akt des Sprechens: Was gesagt werden soll, ist in Gedanken klar strukturiert, allein die Vertonung bereitet Schwierigkeiten. Die Betroffenen stottern (wiederholen, stocken), lispeln (stoßen mit der Zunge an den Zähnen an), poltern (überhastete, unvollständige, verwaschene Laute) oder verweigern das Sprechen ganz oder teilweise (Mutismus). Schreien, Gurren, Lallen. „Das klingt offensichtlich, wird aber häufig nicht gleich erkannt“, räumt der Experte ein. Der Grund: „Man nimmt an, dass Sprechen von Natur aus gegeben ist, nur die Sprache müsse gelernt werden – das greift zu kurz.“Zwar beruhe verbale Kommunikation auf einer gesunden Motorik, Kognition und Muskulatur, doch sollten die Eltern ihren Kinder das Sprechen auch vormachen, auf ihre Laute reagieren. Nur so werde aus Schreien ab der siebenten Woche ein Gurren, ab dem vierten Monat ein Lallen und am Ende ein stetig wachsendes Repertoire an Vokabeln. „Hinkt ein Kind diesen Richtwerten stark hinterher, sollte professionelle Hilfe eingeholt werden.“
Eine mögliche Diagnose: Balbuties, also Stottern. Es „lässt sich mit der Behandlung von Einzelsymptomen (z. B. Atmung, Sprechrhythmus, Entspannung/Bachblütentherapie) oder vorübergehenden Änderungen der Sprechweise (z. B. Singen, medikamentöse Sprechverlangsamung) in isolierten Situationen rasch vermindern; dies kann eine kurzfristige Heilung vortäuschen“, heißt es im aktuellen Bericht der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Wissenschaftlich erwiesen ist die Wirksamkeit nicht, gute langfristige Erfolge wurden aber mit der Sprechrestrukturierung, der Stottermodifikation oder deren Kombination sowie mit operanten und indirekten Verfahren erzielt.
Bei der Sprechrestrukturierung wird eine neue Sprechweise erlernt. Beim Fluently Shaping, der gebräuchlichsten Variante, wird dazu das Sprechtempo stark verlangsamt und ein sanfter Stimmeinsatz bei den Wortansätzen geübt. Ebenfalls zum Restrukturierungsansatz gezählt wird die Kasseler Stottertherapie, bei der die Patienten mit einer Software arbeiten. „Sie sprechen Wörter oder Sätze nach, die Software gibt Feed- back über die Stimmführung“, erläutert Becker. Nach dem Intensivtraining folgt eine zehnmonatige Nachsorge, wobei „Hausaufgaben“wie Anrufe getätigt werden sollen. Für stotternde Personen ab zwölf Jahren geeignet ist weiters das Camperdown-Programm, bei dem ein Sprecher per Video einen Text vorträgt und die Patienten das Modell zu imitieren versuchen.
»Stotterer in Filmen sind die Blöden, die Allerblödesten hauen sich dazu auf den Kopf.« »Empfohlen wird heute die Kombination aus Stotter- und Sprechmodifikation.«
Die Stottermodifikation konzentriert sich auf die Arbeit am Symptom, folglich einerseits auf die Körperfunktionen, andererseits auf die emotionale Ebene. Mittels Spiegeln oder Videoaufzeichnungen wird der Sprechakt beobachtet, reflektiert und wiederholt. „Im Symptom wird gestoppt, dann mit einer kontrolliert verlangsamten Artikulationsbewegung und weichem Stimmeinsatz die beabsichtigte Silbe weitergesprochen, bereits flüssige Redeanteile bleiben unbearbeitet“, so die Erläuterungen in den deutschen Leitlinien. Eine Variante der Modifikation ist der Non-Avoidance-Ansatz. Er zielt darauf ab, dass das Stottern nicht vermieden wird, sondern „weicher“wird und damit ein besseres Redegefühl einhergeht. Werden Restrukturierung und Modifikation kombiniert, so ergaben kürzlich durchgeführte Studien, kann sogar bei neunjährigen Kindern ein gesteigerter Redefluss erzielt werden. Therapie ab drei Jahren. Schon im Kindergarten zur Anwendung kommen kann das Lidcombe-Programm. Die Theorie dahinter: Jedes Kind kann prinzipiell flüssig sprechen, es müsse nur sanft auf Holprigkeiten aufmerksam gemacht werden. Auf ein verändertes Verhalten setzt indes die „indirekte Methode“, zu der das Restart Demands and Capacities Model zählt. Stotternden Drei- bis Sechsjährigen soll dabei ein neues Kommunikationsverhalten vorgelebt werden, das langsame Vorsprechen sowie die Schaffung von günstigen Alltagsroutinen.
In manchen Fällen ist eine Sprechtherapie aber nicht genug: Jugendliche und Erwachsene, die eine Stotterbehandlung aufsuchen, „zeigen ein zum Teil drastisch erhöhtes Risiko für eine oder mehrere psychische Störungen“, warnt die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. So könnten sich Ängste ausbilden, da sich die Betroffenen fürchten oder schämen, vor anderen zu sprechen. Ebenfalls angeführt werden soziale Phobien oder Panikattacken, die wiederum – um sie zu verhindern – den sozialen Rückzug der Stotternden oder eine Sprechverweigerung zur Folge haben können.