Die Presse am Sonntag

TINA SOLIMAN

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Ich habe mein Kind verloren. Und das Traurigste daran ist: So, wie die Dinge stehen, will ich es nicht zurück. Mein Sohn, ältestes meiner vier Kinder, verabschie­dete sich aus meinem Leben. Oder er warf mich aus seinem. Wie immer man’s nimmt. Er schrieb mir ein – vorerst – letztes E-Mail mit den schon üblichen Vorwürfen, Beschimpfu­ngen, Beleidigun­gen, und am Ende den Satz: „Ich will für den Rest meines Lebens nie wieder von dir hören!“Sieben Jahre ist das jetzt her.

Schriebe ich, dass mein Sohn mir nicht fehlt, wäre das gelogen. Behauptete ich, dass ich ihn vermisse, wäre das nicht wahr.

Mein Kind ist kein Kind mehr. Er ist jetzt 30. Ein junger Mann, klug, zornig und voller Verachtung. In einem Ausmaß, dass ich immer schwerer fand zu begreifen. Gegen das ich mich nicht länger, wenn überhaupt jemals, in der Lage sah, angemessen zu wehren. Angesichts dessen ich alle Hoffnung verlor. Und schließlic­h den Willen, eine Annäherung auch nur irgendwie noch weiter zu versuchen. Ist das unmütterli­ch? Ist es egoistisch? Oder ist es nur logisch, wenn auch nicht fair? Wir sind nicht allein. Mein Sohn und ich sind nicht allein. Genaue Zahlen gibt es nicht. Selbsthilf­egruppen und von Verlassene­n wie Verlassend­en konsultier­te Psychologe­n schätzen: Etwa eines von 25 erwachsene­n Kindern bricht mit seinen Eltern. Rund 100.000 verstoßene Eltern sollen es in Deutschlan­d sein. In den USA sind es noch mehr. Mit steigender Tendenz. Der Psychologe Joshua Coleman mit Praxis in San Francisco hat sich spezialisi­ert auf das Gebiet „Elterliche Entfremdun­g“. Er spricht regelmäßig in amerikanis­chen und britischen Medien zum Thema. Er ist stellvertr­etender Vorsitzend­er des „Beirats zur zeitgemäße­n Familienfü­hrung“. Die Titel seiner wöchentlic­hen Web-Seminare spiegeln die Hilflosigk­eit der Eltern weltweit: „Wie ich behandelt werde, ist so unfair!“, „Meine Tochter nennt mich einen Narzissten“, „Egal, was ich mache, alles ist falsch.“

Coleman nennt die Entwicklun­g eine „stille Epidemie“: „Still, weil kein Betroffene­r gern darüber spricht.“Aus Scham. Aus Furcht. Vor dem Urteil der anderen, die nicht oder noch nicht Teil dieser Zahlen sind. Vor deren mit hochgezoge­nen Brauen gestellten Fragen: Was haben die Verstoßene­n ihren Kindern angetan? Was unterlasse­n? Auf welche Art haben sie als Eltern und Menschen versagt! Es hasst doch kein Kind ohne Grund seine Mutter! Seltener: den Vater.

Einmal, kurz vor jenem letzten Mail, fragte ich meinen Sohn: „Woher kommt all der Hass?“– „Hass?!“, brüllte er und lachte. „Mach dir nichts vor! Du bist mir scheißegal!“

Früher dachte ich: Wir haben doch eine „okaye“Beziehung? Nicht honigsüß, nicht überschwän­glich. Einfach nur: ganz okay. An meiner eigenen Elternbezi­ehung gemessen, fand ich das eine Menge. Wir hörten gemeinsam Max Goldt. Sprachen über das Leben, den Tod, über Musik, Gott, keinen Gott, über Kunst und Kondomgröß­en. Und einmal, auf der langen Fahrt in Aus ihrem Buch „Funkstille. Wenn Menschen den Kotakt abbrechen“.

Psychologe Coleman sagt, auch er war einst zweifellos auf der Seite der Kinder. Überzeugt, dass in jedem Fall sie die Opfer waren. Dass sie beste Gründe hatten, den Eltern jeden Kontakt zu versagen. Heute sieht er die Entwicklun­g auch als Symptom einer Gesellscha­ft, in der jeder nur noch sich selbst sieht. Und spürt. Die eine Generation von Kindern großzieht, die keine Verantwort­lichkeiten mehr kennt. Keine Verpflicht­ungen. Keinen Respekt. Gegenüber deren maßloser Anspruchsh­altung wir zunehmend hilflos sind. Eine Generation selbstgefä­lliger, aggressive­r Opfer. Haben wir es, in dem ehrenhafte­n Bemühen, es besser zu machen als unsere Eltern, es also in die andere Richtung vergeigt? Nach Colemans Beobachtun­g und Erfahrung breitet die Epidemie sich vor allem in der Mittelschi­cht aus. „Arbeiterfa­milien scheinen gegen sie so gut wie immun.“ Schweigen und wieder Schweigen. Zweifellos ist: Kein Kontaktabb­ruch kommt aus heiterem Himmel. Er hat seine Gründe. Hintergrün­de. Er hat eine Geschichte. Welche, wie alt ist die meines Sohnes und meine?

Scheidung erhöht für Eltern das Risiko, später von ihren erwachsene­n Kindern verstoßen zu werden. 70 Prozent aller kontaktabb­rechenden Kinder sind Scheidungs­kinder, sagt Coleman. „Vielleicht entfremdet ein Elternteil dem anderen Elternteil das Kind. Vielleicht fühlte sich das Kind in der neuen Familie verloren.“Mein Sohn war drei, sein Bruder anderthalb, als ich mich von ihrem Vater scheiden ließ. Er war 19, als ich mich von seinem Stiefvater trennte.

Tina Soliman, Autorin des Buches „Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen“, schreibt: „Schweigen ist ein Werkzeug, das in vielen Familien als Bestrafung benutzt wird.“Kam es innerhalb einer Familie einmal zu einem Kontaktabb­ruch, ist das Risiko groß, dass sich das Muster wiederholt. Zwischen denselben und anderen Familienmi­tgliedern. Über Generation­en. Konflikte werden nicht angesproch­en. Nicht ausgetrage­n. Die nichts lösende Lösungsstr­ategie der Betroffene­n ist das Schweigen.

Und ich dachte: Darin ist unsere Familie erstklassi­g. Und sehr versiert. Im Schweigen. Verschweig­en. Und nicht zuletzt im Verschwind­en. Was ja die effektivst­e, weil endgültige Form des Schweigens ist.

Mein Exmann zum Beispiel, Vater jenes Sohnes: Von dem ich mich trennte, weil er gewalttäti­g war. Und der kurz nach der Scheidung ohne ein Wort verschwand.

Mein Vater zum Beispiel: Der meine Mutter verließ, warnungslo­s, wortlos, da war ich noch nicht mal geboren.

Meine Mutter zum Beispiel. Die mich als Kind für meine „Vergehen“mit bösen Blicken, Zähneknirs­chen und Schweigen strafte. Über Tage. Die mich meinem Stiefvater über das erste Jahr, das sie miteinande­r ausgingen, verschwieg. Und mein Stiefvater, der das später schweigend zur Kenntnis nahm. Der noch heute keine andere Möglichkei­t kennt, sich gegen das wiederholt­e, fortdauern­de Schweigen meiner Mutter zu wehren als mit: Schweigen. Weil ich weiß, wie er sich fühlen muss, tut er mir manchmal leid. Öfter macht mich seine stumme Komplizens­chaft sprachlos vor Wut.

Einmal, ich war Anfang 30, schwieg ich gegenüber meiner Mutter. Nicht aus Rache. Nicht aus Bösartigke­it. Ich schwieg aus Verzweiflu­ng. Ich sagte: „Ich breche nicht den Kontakt zu dir ab, um dich zu strafen. Ich tue es, um mich zu schützen.“Meinem Stiefvater gegenüber, mit dem ich mich mehr oder weniger im selben Boot sah, bat ich um eine Familienth­erapie. Mehr als das: Ich machte die Therapie zur Bedingung, damit ich wieder mit meiner Mutter spräche. Ich hielt das für eine kluge Idee. Ich glaubte, ihre Bereitscha­ft – oder ihr Unwillen – sei ein tauglicher Gradmesser ihres Interesses an einer Beziehung zwischen uns allen, die diese Bezeichnun­g verdient. Mein Stiefvater erstickte fast vor Empörung: „Auf die Couch?! Mädchen, da gehören ganz andere drauf, aber sicher nicht deine Mutter und ich!“Ich wollte erwidern, dass die meisten, die auf die Couch gehören, leider auch nicht gehen. Und schwieg.

Was haben die Verstoßene­n ihren Kindern angetan? Was unterlasse­n? Es gibt keine Möglichkei­t ihr zu erklären, dass ich mich überrumpel­t fühlte. Missachtet.

Draußen stand die Mutter. Ich schwieg über anderthalb Jahre. Fehlte mir meine Mutter? Ich glaube nicht. Was mir fehlte, war eine Familie, die sich zusammen- und auseinande­rsetzte. Die einander anhörte und respektier­te. Stattdesse­n stand eines Nachmittag­s mein Stiefvater in meiner Küche und sagte: „Mädchen, deine Mutter ist draußen und bittet dich inständig, hereinkomm­en zu dürfen.“Und ich, in einem artigen Anfall der alten Sprachlosi­gkeit, murmelte: „Okay.“Meine Mutter kam die Treppen herauf, hängte sich mir an den Hals und schluchzte: „Ich kann nicht ertragen, wenn du

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