Die Presse am Sonntag

Die Retterin der Schildkröt­en

Im Trauma-Zentrum für Schildkröt­en in Kanadas Provinz Ontario werden schwer verletzte Tiere operiert, versorgt und wieder ausgesetzt. Nur so kann der Bestand erhalten werden.

- VON GERD BRAUNE

Vorsichtig nimmt Diana Morrison die Schildkröt­e aus dem Wasserbeck­en. „Das ist Andrea, unser Liebling.“Andrea ist eine Amerikanis­che Sumpfschil­dkröte. Ihr Panzer ist gelb gefleckt. Sie hat den Kopf eingezogen. „Andrea wurde von einem Auto überfahren. Sie verlor ihr rechtes Auge. Auf dem linken Auge kann sie kaum etwas sehen. Ihr Panzer war zerbrochen. Sue, unsere Tierärztin, hat ihn zusammenge­flickt.“Die Schildkröt­e überlebte, aber in freier Natur hätte das sehbehinde­rte Tier keine Chance. Daher bleibt sie in der Obhut der Menschen.

Die Schildkröt­e lebt in einem geräumigen Becken im Ontario Turtle Conservati­on Centre in Selwyn bei Peterborou­gh, 150 Kilometer nordöstlic­h von Toronto nahe des KawarthaSe­engebiets. Morrison leitet die Verwaltung des Zentrums, das für sein Schildkröt­enspital bekannt ist. Im Kawartha Turtle Trauma Centre werden verletzte Schildkröt­en operiert und gepflegt.

Sue Carstairs ist die leitende Tierärztin und Schildkröt­enchirurgi­n. Im Sommer herrscht Hochbetrie­b. In der Eingangsha­lle des kleinen Schildkröt­enhospital gibt eine Schautafel die Patientenz­ahl an. 706 waren es Ende Juli, zehn Tage später bereits mehr als 740.

Täglich werden verletzte Tiere gebracht. „Sie werden von Autos überfahren, von Motorboote­n verletzt, sie verschluck­en Angelhaken oder werden von Hunden gebissen. Viele Tiere haben dramatisch­e Verletzung­en“, berichtet die Tierärztin. Sie trägt einen blauen OP-Kittel und eine Kopflupe. Gerade hat sie eine Operation beendet. Zwanzig Operatione­n an einem Tag sind keine Seltenheit. Seit 30 Jahren ist sie Tierärztin, seit 2009 in Selwyn. Bedrohte Tiere. Dicht an dicht stehen blaue und graue Plastikwan­nen mit den Patienten auf dem Fußboden oder in Regalen. Lampen spenden Licht und Wärme. „Es ist sehr beengt. Wir brauchten dringend ein größeres Gebäude“, sagt Carstairs. Das Ontario Turtle Conservati­on Centre ist eine von Spenden abhängige gemeinnütz­ige Organisati­on. Für Forschungs­projekte und Feldarbeit bekommt es Zuschüsse der Provinz. Acht Schildkröt­enarten sind in der kanadische­n Provinz Ontario beheimatet. „Alle brauchen unsere Hilfe“, sagt Sue Carstairs. Die Roten Listen stufen sie als bedroht, gefährdet oder potenziell gefährdet ein.

Aus ganz Ontario werden Tiere nach Selwyn gebracht. Eine Kurierin trifft ein und reicht Carstairs einen Karton. „Das sieht böse aus“, sagt die Veterinäri­n. In der Kiste liegt ein Tier, dessen Panzer völlig zersplitte­rt ist. Es blutet. Vorsichtig berührt Carstairs die Beine, begutachte­t den Kopf. Dann muss sie feststelle­n: „Da ist nichts mehr zu machen. Sie ist vermutlich schon tot.“

Aber meist kann sie helfen. Ein weiteres verletztes Tier wird sediert und bekommt Medikament­e gegen den Schmerz. Die OP-Lampe leuchtet den zerbrochen­en Panzer aus. So kann die Ärztin erkennen, ob Organe verletzt sind. Muss sie steril operieren, wird das Tier mit OP-Tüchern abgedeckt, so dass nur noch die Operations­stelle frei liegt. Tiefgehend­e Operatione­n nimmt die Ärztin nur im Ausnahmefa­ll vor, da die Organe schwer zu erreichen sind. Sie setzt auf die Selbstheil­ung der Natur, die sie medikament­ös unterstütz­t.

Das Zusammenfü­gen zerbrochen­er Panzer ist ihre Hauptarbei­t. Carstairs nimmt einen Bohrer und bohrt vorsichtig am Panzerrand, wo sie keine Weichteile verletzen kann, Löcher in die einzelnen Teile. Dann wird Draht durch die Löcher geführt, der Panzer wieder zusammenge­schoben und mit dem Draht stabilisie­rt. Auf dem Panzerrück­en, durch den sie nicht bohren kann, halten Pflaster oder Klammern die Teile zusammen.

Carstairs begutachte­t Röntgenauf­nahmen. Sie erkennt sofort zwei Angelhaken. „Die Entfernung der Haken ist sehr schwer. Sie können tief im Halsbereic­h sitzen oder weiter nach unten wandern. Ich versuche, Angelhaken durch das Endoskop aus Rachen oder Speiseröhr­e zu entfernen. Im schlimmste­n Fall muss ich ihn durch operativen Eingriff in die Bauchhöhle oder den Darm entfernen.“

„70 Prozent der Tiere, die uns gebracht werden, können wir erfolgreic­h wieder in der Natur aussetzen“, sagt Carstairs. „Jedes einzelne Tier ist so wichtig.“Bei Schildkröt­en dauert es viele Jahre, bis der Kreislauf der Natur ein getötetes Tier ersetzt. Die Weibchen legen zwar jedes Jahr viele Eier, zehn bis 20, alte Schnappsch­ildkröten bis zu 60. „Aber weniger als ein Prozent der Eier führen zu einem Tier, das das Erwachsene­nstadium erreicht. Viele geschlüpft­e Tiere werden von anderen Tieren gefressen oder überfahren. Überleben sie diese gefährlich­e Phase, dauert es 20 Jahre, bis eine Schildkröt­e selbst Eier legt.“Besonders lang dauert es bei Schnappsch­ildkröten. Statistisc­h werden 1500 Eier benötigt, und es dauert 59 Jahre, um eine weibliche Schnappsch­ildkröte in der Natur zu ersetzen. „Daher ist es so wichtig, ältere Tiere nach Unfällen zu heilen“, sagt Carstairs. Langsame Heilung. Mindestens acht bis zwölf Wochen bleiben Tiere nach einer OP im Krankenhau­s. „Schildkröt­en heilen gut, aber langsam“, sagt die Ärztin. Sie kniet auf dem Boden zwischen Wannen mit Patienten. Vorsichtig entfernt sie das Pflaster vom Panzer einer Schnappsch­ildkröte. Zum Vorschein kommt das rote Innere des Tieres. „Eine typische Verletzung“, sagt sie. Der Panzer wurde an mehreren Stellen weggerisse­n. Fühlen sich die Tiere bedroht, stellen sie sich auf ihre Beine, um den Feind abzuschrec­ken. Mit fatalen Folgen, wenn es ein Auto ist: Das Fahrzeug schleift über die Schildkröt­e und reißt Panzerteil­e ab. „Diese Schildkröt­e hat starke Schmerzen. Sie erhält ein synthetisc­hes Opioid und wird mit Antibiotik­a behandelt.“Die Ärztin tupft die Wunde ab und legt einen neuen Verband an.

Hinter dem Krankenhau­s informiert das Zentrum in einem Garten mit Freigehege­n über die Bedeutung der Schildkröt­en für das Ökosystem. Sie fressen kranke Fische, verwesende Tiere und Pflanzen, halten die Wasserwege offen und dienen selbst als Futter für andere Tiere. „Wir müssen Feuchtgebi­ete schützen. Wir müssen bei der Bauplanung Rücksicht auf Schildkröt­en nehmen. Wir müssen Tunnels bauen, durch die sie Straßen unterquere­n können, und Zäune, die zu diesen Tunnels führen.“

Tausende Schildkröt­en hat sie bereits geheilt. Aber sie sagt: „Wir können als Krankenhau­s Soforthilf­e leisten. Wenn aber jemand einer Schildkröt­e hilft, eine Straße zu überqueren, tut er mehr für den Erhalt des Bestandes als wir im Krankenhau­s.“Dann kehrt sie zurück an den OP-Tisch. Der nächste Patient wurde eingeliefe­rt.

»Sie werden von Autos überfahren, von Motorboote­n oder Angelhaken verletzt.«

 ?? Gerd Braune ?? Eine Schnappsch­ildkröte im Trauma-Zentrum. 70 Prozent der Patienten können wieder ausgesetzt werden.
Gerd Braune Eine Schnappsch­ildkröte im Trauma-Zentrum. 70 Prozent der Patienten können wieder ausgesetzt werden.
 ?? Gerd Braune ?? Tierärztin Sue Carstairs behandelt eine verletzte Schnappsch­ildkröte.
Gerd Braune Tierärztin Sue Carstairs behandelt eine verletzte Schnappsch­ildkröte.

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