Morden gegen den Untergang des Kalifats
Mit den Anschlägen in Barcelona wollte der Islamische Staat auch sein ramponiertes Image aufpolieren. Denn die Terrormiliz ist eigentlich am Ende.
Nicht einmal ein Räuspern ist zu hören, als er die Treppe betritt. Bedächtig setzt er Schritt für Schritt und hält auf jeder der sieben Stufen inne, bevor er die nächste nimmt. Auf dem Weg zur absoluten Macht will er Demut und Würde demonstrieren. Dann ist es so weit: Abu Bakr al-Baghdadi, der Führer des sogenannten Islamischen Staates (IS), beginnt seine große Rede auf der Kanzel der al-Nour-Moschee in Mosul. Der Mann in schwarzer Robe und mit schwarzem Turban auf dem Kopf, der ihn als Abkömmling des Propheten Mohammed ausweist, ruft das Kalifat aller Muslime aus. Sich selbst erklärt er zum auserwählten Imam und Emir.
Es ist der Moment, auf den al-Baghdadi sehnsüchtig gewartet hat – und in dem es den Sicherheitsdiensten in aller Welt den Atem verschlägt. Denn das Kalifat ist der große Traum aller radikalen Islamisten, für den sie seit Jahrzehnten in Tschetschenien, Afghanistan, im Irak oder auch in Syrien kämpfen und bereitwillig sterben. Ein eigener Gottesstaat ist ein Ideal, das sie alle verbindet. Vor dem IS hat es noch nie eine Terrorgruppe geschafft, ein Kalifat zu gründen. Nicht auszudenken, wenn sich alle Jihadisten dem IS anschließen.
Heute, drei Jahre später, sieht alles ganz anders aus. Zwar haben sich tatsächlich Zehntausende Islamisten aus aller Welt dem IS angeschlossen. Nur, das glorreiche Kalifat, das Istanbul, Rom und al-Andalus „zurückerobern“wollte, liegt in Trümmern. Aus dem Irak wurde der IS fast komplett vertrieben. In Syrien ist Raqqa, die Hauptstadt des Kalifats, hoffnungslos eingekesselt. Und al-Baghdadi soll tot sein, wie Menschenrechtsbeobachter und Medien im Juli gemeldet haben. Heute ist es ein führerloser IS, der sich im rasanten Fall in die militärische Bedeutungslosigkeit befindet. Mit weltweiten Attentaten, abscheulichen Exekutionen und dem Genozid an Jesiden und Christen hat die Terrormiliz die gesamte Welt gegen sich aufgebracht.
Es war ein Krieg, den der IS nie gewinnen konnte. Den Fußsoldaten dürfte das nicht klar gewesen sein. Sie glaubten an den Sieg mit Allahs Hilfe. Aber die Führungselite um al-Baghdadi wusste, was sie tat. Schließlich setzte sie sich aus ehemaligen Geheimdienstlern und Militärs von Saddam Hussein zusammen. Ist der Untergang des IS ebenfalls Teil ihrer Strategie? Soll mit dem Ende der Organisation eine noch stärkere Idee geboren, ein noch größeres, mächtigeres Gespenst erzeugt werden? In dessen Namen man weitere Attentate begeht? Dilettantische Täter. Die Anschläge in Barcelona waren viel größer geplant. Sie sollten noch wesentlich verheerendere Auswirkungen haben. Die Attentäter hatten Dutzende mit Sprengstoff gefüllte Gasflaschen in einem Haus in Alcanar, etwa 100 Kilometer südöstlich von Barcelona, vorbereitet. Nicht auszudenken, wenn die mit Kabeln verbundenen Gasflaschen auf einem Fahrzeug in einer Menschenmenge gezündet worden wären. Nur aufgrund des Internetbotschaft eines IS-Anhängers Dilettantismus der Täter wurde ein Blutbad verhindert. Einer von ihnen hatte sich Tage vor dem geplanten Anschlag selbst in die Luft gejagt. Mittlerweile ist klar, dass drei mehr oder weniger simultan ablaufende Anschläge an verschiedenen Orten geplant waren.
Der IS wollte in Barcelona unbedingt ein Zeichen setzen, dass er selbst im Untergang noch zu Mordanschlägen fähig ist. Rache für den Verlust von Mosul ist mit inbegriffen, wie Internetbotschaften von IS-Anhängern nahelegen: „Ihr kämpft in unserem Land, nun kommen wir zu euch, um Krieg zu führen.“Der ursprüngliche Plan der Täter ist gescheitert, aber die 14 Toten und über 100 Verletzten von Barcelona genügen, um das ramponierte Kampfimage in der internationalen Jihadistenszene etwas aufzupolieren.
Und die gefrusteten IS-Anhänger werden erst einmal wieder bei Laune gehalten. Die ständigen Niederlagen im Irak und Syrien, dem gelobten Land der Levante, liegen schwer auf den militanten Gemütern. Die Opfer von Barcelona entschädigen sie da ein wenig. Bei den Kämpfern und Fanboys vor den Com- putern bleibt so die Illusion erhalten: Der Untergang in der Levante lässt sich nicht vermeiden, dafür wird die Idee überleben und sich weltweit wie ein Virus ausbreiten. Selbstüberschätzung. „Die Täter des Anschlags von Barcelona sind Soldaten des Islamischen Staats“, hieß es in einem Bekennerschreiben, das die ISNachrichtenagentur Amaq verbreitete. „Sie haben die Operation als Antwort auf unseren Ruf ausgeführt, die Staaten der Koalition anzugreifen.“Mit Koalition ist die von den USA angeführte Anti-IS-Allianz von über 60 Nationen gemeint, die im Kampf gegen die Terrorgruppe kooperieren. Sie sind für den IS Primärziele.
Das Sendungsbewusstsein des IS ist ungebrochen. Er glaubt weiter an die Stärke seiner göttlichen Botschaft. Aber „Soldaten antworten auf unseren Ruf“ist ein Zeichen völliger Selbstüberschätzung. Fast müsste man das als Farce abtun, wären da nicht die vielen Opfer. Denn die meisten Anschläge werden dilettantisch und oft von psychisch labilen Tätern ausgeführt. Selbst beim Attentat von Barcelona ist das so. Seit Langem wurde dort zwar eine konzertierte Aktion von acht bis zwölf Männern vorbereitet, am Ende griffen sie die die Polizei mit Messern, Äxten und fingierten Sprengstoffgürteln an. Ein Mitglied der Terrorbande von Barcelona war der 17-jährige Moussa Oukabir. Für clevere Rekrutierer ist es einfach, einen jungen Teenager zu manipulieren.
Nun stellt sich die Frage, wie sich der Tod von al-Baghdadi – so es denn stimmt – auswirken wird. Es darf bezweifelt werden, dass daraus ein Mythos wie bei Osama bin Laden wird. Von al-Baghdadi gibt es nur das Video aus der al-Nour-Moschee. In den wenigen Audiobotschaften fordert er seine Kämpfer mal zum Durchhalten und mal zur Flucht auf. Große Reden von ihm gibt es nicht. Für einen Heldenstatus dürfte das zu wenig sein.
Ist der Untergang des Islamischen Staats vielleicht Teil einer Strategie? Der Anschlag in Barcelona ist für viele IS-Anhänger die Rache der Verluste von Mosul.