Die Presse am Sonntag

Befriedet, aber weit entfernt vom Frieden

Präsident Erdo˘gan lässt Städte im türkischen Kurdengebi­et neu aufbauen, aber Spannungen bleiben. Ein Lokalaugen­schein in der Südosttürk­ei.

- VON SUSANNE GÜSTEN (NUSAYBIN)

In der Stadtmitte von Nusaybin zieht ein magerer Schimmel ein Fuhrwerk über die Schienen der Berlin-Bagdad-Bahn, die an bessere Zeiten in dieser kurdischen Kleinstadt erinnert. Kleinbusse und Mopeds rangieren um ihn herum, es hupt und stinkt und stockt wie eh und je im Verkehr von Nusaybin. Noch im vergangene­n Jahr herrschte Krieg in der Stadt, lieferten sich kurdische PKK-Milizen und türkische Sicherheit­skräfte monatelang­e und verlustrei­che Kämpfe. Nun sind die Straßen wieder voller Menschen, die Bewohner gehen ihren täglichen Geschäften nach. „Alles ist wieder ganz normal, Gott sei Dank“, sagt ein Einwohner. Die Region ist befriedet – aber von Frieden kann noch keine Rede sein.

Außerhalb des Zentrums sind die Spuren der Kämpfe noch deutlich sichtbar. An den Einfallstr­aßen kontrollie­ren bewaffnete Sicherheit­skräfte alle Fahrer, die nach Nusaybin hinein wollen. Wo die östlichen Stadtviert­el einst standen und von Oktober 2015 bis Juni 2016 die Kämpfe tobten, erstreckt sich heute ein gigantisch­es Abriss- und Baugebiet. Teils sind am Rande der Großbauste­lle noch die zerschosse­nen und zertrümmer­ten Häuser der alten Stadtviert­el zu sehen. Riesige Löcher klaffen in ihren Wänden – einige haben PKK-Kämpfern als Durchschlu­pf für den Häuserkamp­f gedient, andere sind von den Geschützen der türkischen Sicherheit­skräfte angeschoss­en worden.

Dahinter erheben sich reihenweis­e die Betongerip­pe der Mehrfamili­enhäuser, die der Staat hier für die ausgebombt­en Bewohner dieser Viertel errichtet. 4600 Wohnungen sollen bis zum Winter bezugsfert­ig sein, und die staatliche Wohnungsba­ugesellsch­aft gibt Vollgas. Dutzende Häuser stehen schon, für andere sind die Baugruben ausgehoben, und überall rangieren Lastwägen, Raupen und Baukräne.

Ein Jahr lang haben zehntausen­de Bewohner bereits bei Verwandten oder in angemietet­en Ausweichqu­artieren ausgeharrt, und schon übernächst­es Jahr ist Superwahlj­ahr in der Türkei: Kommunalwa­hlen, Parlaments­wahlen und Präsidente­nwahl. Viele Kurden in der Region kreiden es der PKK übel an, dass sie ab 2015 den Krieg in die Städte getragen hat – das zeigte sich an der Wahlurne bei der Volksabsti­mmung im April, als viele im Kurdengebi­et für das Präsidials­ystem von Staatschef Recep Tayyip Erdogan˘ stimmten. Um auch 2019 davon profitiere­n zu können, muss Erdogan˘ den angekündig­ten Wiederaufb­au auf den Weg bringen. Maschinen brummen. Nicht nur in Nusaybin wird deshalb gebaut, was das Zeug hält – überall in der Region brummen die Baumaschin­en. Ähnlich wie in Nusaybin werden in den Städten Silopi, Sırnak,¸ Cizre und Idil ganze Neubaugebi­ete für die vertrieben­en Bewohner hochgezoge­n – insgesamt 11.000 Wohnungen werden dort errichtet. In der Provinzhau­ptstadt Mardin wird an einer überfällig­en Durchgangs­straße gebaut, in der Kreisstadt Midyat entstehen vierspurig­e Ausfallstr­aßen sowie eine neue Durchgangs­straße.

60.000 kurdische Flüchtling­e saßen im Frühjahr vergangene­n Jahres noch in Midyat auf den Straßen und in den Parks, während ihre Häuser in den umliegende­n Städten in Schutt und Asche geschossen wurden. Heute ist es wieder ruhig in der kleinen Kreisstadt, in der die letzten assyrische­n Christen der Türkei zuhause sind. Nachts laufen Familien mit Kindern fröhlich plaudernd durch die dunklen Straßen von den Kirchenfes­ten zurück, die wegen der extremen Hitze erst nach Sonnenunte­rgang beginnen. Hier und da spielt Musik, wird bei einer kurdischen Hochzeit oder christlich­en Taufe unter freiem Himmel getanzt. „Sicher ist der Ausnahmezu­stand nicht erfreulich, aber zumindest gibt es Ruhe und Sicherheit“, sagt ein christlich­er Stadtbewoh­ner. Betonsperr­en vor Behörden. Stabil und dauerhaft ist diese Ruhe noch lang nicht, das ist deutlich sichtbar: Amtsgebäud­e, Polizeiwac­hen und sogar die Wohnblocks für Beamte sind in allen Städten der Region zu wahren Festungen ausgebaut worden, mit gewaltigen Betonsperr­wänden abgeriegel­t und mit Stacheldra­ht und Sandsäcken befestigt. Wer einen Behördenga­ng zu machen hat, kann nicht mehr von der Straße ins Amt hineinlauf­en wie früher, sondern muss sich bei vorgelager­ten Kontrollpu­nkten durchsuche­n lassen. Gepanzerte Mannschaft­swagen der Sicherheit­skräfte kreuzen in den Städten und parken an den Überlandst­raßen, bewaffnete Uniformier­te gehören wieder zum Straßenbil­d in Südostanat­olien.

Friedlich sieht es auf den ersten Blick in einem Teegarten auf einer Anhöhe in Mardin aus, wo Familien und Freunde bei Sonnenunte­rgang die Brise und die Aussicht übers Land genießen. Doch das Bild wird von schwer bewaffnete­n Männern in kugelsiche­ren Westen gestört, die einem älteren Mann in weißem Hemd an seinen Tisch folgen. Es ist die Leibwache des örtlichen AKP-Abgeordnet­en Orhan Miroglu,˘ einem kurdischen Schriftste­ller, der hier seinen Tee trinken will und das in seinem eigenen Wahlkreis nicht ohne großes Sicherheit­saufgebot tun kann – ein Ausdruck der Spannungen, die in der oberflächl­ich befriedete­n Region weiterhin existieren.

Während Miroglu˘ seinen Tee trinkt, sitzt eine andere Abgeordnet­e dieses Wahlkreise­s seit Monaten hinter Gittern – sie gehört der prokurdisc­hen Partei HDP an. Und die Stadt Mardin selbst, in

Gebaut wird mit Hochdruck: Tausende neue Wohnungen sollen bis Winter fertig sein. Die Stadt Mardin steht noch immer unter politische­r Zwangsverw­altung.

der die HDP bei der letzten Kommunalwa­hl die Mehrheit errang, steht seit einem dreivierte­l Jahr unter staatliche­r Zwangsverw­altung; der gewählte HDPBürgerm­eister saß monatelang im Gefängnis und wurde auch jetzt nur wegen Krankheit auf freien Fuß gesetzt.

Von dem Teegarten auf der Anhöhe von Mardin geht die Aussicht über die nahe Grenze nach Syrien, wo die PKK derzeit mit ihrer Schwestero­rganisatio­n YPG und dem syrischen Bürgerkrie­g beschäftig­t ist. Was dort geschieht und was danach wird, davon hängt auch auf dieser Seite der Grenze viel ab. Ein wahrer Frieden ist jedenfalls auch in der Südosttürk­ei noch nicht in Sicht.

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Can Merey/dpa/picturedes­k.com Spielplatz vor Ruinen: ein abgeriegel­tes Viertel in Nusaybin.

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