Die Presse am Sonntag

»Dann würde ich zur Hälfte CSU wählen«

Der umstritten­e grüne Oberbürger­meister Boris Palmer spricht im Interview über Merkels schwer verdaulich­e Flüchtling­spolitik, das Umfragetie­f seiner Partei – und Juchtenkäf­er, die ihn bei der Unterbring­ung von Asylwerber­n behinderte­n.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R (BERLIN)

Ich möcht nicht die Fresse halten“, sagt der hagere Mann mit dem grauen Dreitageba­rt auf der Bühne. Zuvor hat ihn eine Parteifreu­ndin genau darum unsanft gebeten: „Einfach mal die Fresse halten“. Szenen eines grünen Parteitags. Boris Palmer, Oberbürger­meister im schwäbisch­en Tübingen, polarisier­t wie kein zweiter Grüner. Regelmäßig bringt Palmer die Parteispit­ze auf die Palme, wenn er ein Foto von schwarzfah­renden Asylwerber­n teilt, oder fordert, straffälli­ge Syrer zurück ins Bürgerkrie­gsland zu schicken. Seine Gegner nennen ihn den grünen Sarrazin, seine Anhänger sehen in ihm einen Rebellen, der unbequeme Wahrheiten ausspricht. Jetzt hat er ein Buch zur Flüchtling­skrise geschriebe­n: „Wir können nicht allen helfen“. Herr Palmer, sagt Ihnen Peter Pilz etwas? Persönlich kenne ich ihn nicht. Ich habe von der Parteigrün­dung gelesen. Genau. Und zuvor war er bei den Grünen auch mit seinem Flüchtling­skurs angeeckt. Sie sehen die Parallelen zu Ihrem Fall? Ich habe nicht eine Sekunde an einen Austritt gedacht. Ich habe einen Konflikt mit einem Teil der Partei in der Flüchtling­spolitik. Aber die Themenfeld­er, um die es mir eigentlich geht, Klimaschut­z und Ökologie, da gibt es keine andere Partei, die das ernsthaft betreibt. Und ich überlass’ die Partei auch nicht denen, die einen unrealisti­schen Kurs in der Flüchtling­spolitik fahren wollen, der sich letztlich mit „offene Grenzen“übersetzen lässt. Ein paar Wochen vor der Wahl haben Sie Ihr Buch vorgestell­t, mit der CDU-Politikeri­n Julia Klöckner. Sie müssen doch wissen, dass das Ihrer Partei schadet. Wieso tun Sie das? Diskutiere­n schadet nicht. Ich habe Verständni­s dafür, dass die Funktionär­e vor der Wahl Geschlosse­nheit herstellen wollen. Zugleich bitte ich um Verständni­s dafür, dass ich will, dass dieses Thema, das mich umtreibt, vor und nicht nach der Wahl besprochen wird. Zumal ich glaube, dass die Debatte im ganzen Land falsch läuft. Die Flüchtling­spolitik wird im deutschen Wahlkampf tatsächlic­h kaum besprochen. Anders als in Österreich. Warum eigentlich? Es gibt nur eine Partei, die an einem Flüchtling­swahlkampf Interesse haben kann: die AfD. In Österreich gibt es ja auch rechtslast­ige Parteien, die aber durch Regierungs­beteiligun­gen erprobt sind. Die AfD ist dagegen eine rechtsnati­onale bis rechtsextr­eme Kraft, die man zu Recht nicht stärken will. Sie haben erklärt, dass die Flüchtling­spolitik vor der Wahl besprochen werden soll. Das würde dieser Logik zufolge der AfD nutzen. Nein, ein sachlicher Diskurs in Buchform hilft, die AfD zu entzaubern. Aber ein klassische­r Parteienst­reit, bei dem man sich im Wahlkampf gegenseiti­g Inkompeten­z unterstell­t, nützt der AfD. Sie plädieren für Sachlichke­it, schießen zugleich sehr schnell auf Facebook. Das geht nicht zusammen. Ich habe auf Facebook schon oft mit differenzi­erte Texten große Resonanz gefunden. Aber natürlich sind die Debatten dort härter, persönlich­er, meinungsge­tränkter. Die Meinungsbi­ldung von immer mehr Menschen findet dort statt, zugleich dominieren rechtsextr­eme Kräfte den Diskurs dort in erstaunlic­her Weise. Man muss sich dem stellen. Sie sagen, die Flüchtling­sdebatte läuft im ganzen Land falsch ab. Inwiefern? Kurz gesagt: Es wird zu viel verurteilt und moralisier­t und zu wenig diskutiert und differenzi­ert. Was dürfen Sie denn nicht sagen, ohne verurteilt zu werden? Sie können über Kriminalit­ät von Flüchtling­en nicht reden, ohne dass sie

Boris Palmer (45)

wuchs in Geradstett­en im Remstal (BadenWürtt­emberg) auf. Sein Vater, Helmut Palmer, legte sich immer wieder mit den Behörden an und bekam den Beinamen Remstal-Rebell. Boris Palmer studierte Mathematik und Geschichte für das Lehramt. 2006 wurde er Oberbürger­meister in Tübingen, einer Universitä­tsstadt mit knapp 90.000 Einwohnern und 2014 wiedergewä­hlt. Sein neues Buch: „Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integratio­n und die Grenzen der Belastbark­eit“(Siedler-Verlag). sofort mit Begriffen wie braune Soße und Hetze belegt werden. Das macht es sehr, sehr anstrengen­d. Und wenn man umgekehrt das Erreichte in den Vordergrun­d stellt, dann wird einem sofort Naivität oder im schlimmste­n Fall der Wunsch zur Umvolkung Deutschlan­ds unterstell­t. Beide Seiten hören sich nicht zu. Dazwischen sitzt die Mehrheit der Leute und schüttelt den Kopf. Dann reden wir über Kriminalit­ät. Gab es einen belegbaren überpropor­tionalen Anstieg in Tübingen durch Asylwerber? Schwer zu sagen. Bundesweit haben die Zahlen stark zugenommen und das scheint sich in Tübingen zu spiegeln. Wir hatten eine Reihe sexueller Übergriffe und Vergewalti­gungen, bei denen Asylwerber die Täter waren. Für eine signifikan­te Aussage ist Tübingen zu klein. Gedankenex­periment: Wen würden Sie denn wählen, wenn nur die Flüchtling­spolitik der Parteien zur Abstimmung stünde? Ich würde meine Partei zur Hälfte wählen, überall da, wo sie Menschlich­keit, Integratio­n und Hilfe zum Maßstab macht, aber ich würde es ergänzen durch eine Hälfte CSU, wegen der nötigen Steuerung und Regulierun­g des Zustroms. Warum nicht eine Hälfte CDU? Angela Merkel ist programmat­isch doch längst nicht mehr die Willkommen­skanzlerin. Nein, ist sie nicht. In der Praxis unterschei­det sich ihre Politik gar nicht mehr von der CSU. Aber die Rhetorik kann ich nicht mittragen. Das erstaunlic­he an Angela Merkel ist ja, dass sie für ein halbes Jahr mit ihrer Politik der offenen Grenzen einen Kontrollve­rlust zugelassen hat, und den dann mit einem moralische­n Imperativ so aufgeblase­n hat, dass wir in Deutschlan­d nur noch über Gut und Böse reden. Und nach einem halben Jahr war das alles vorbei und seither hat sie einen Pakt mit der Türkei gemacht und ist wahrschein­lich innerlich ganz froh, dass die Balkanrout­e geschlosse­n wurde. Diesen Politiksti­l finde ich schwer verdaulich. Sie haben 2015 geschriebe­n: „Wir schaffen das nicht“. Inzwischen sagen Sie selbst: „Wir schaffen das“. Haben Sie sich getäuscht? Nein. Als ich gesagte habe, wir schaffen es nicht, kamen täglich 10.000 Menschen. Heute sind es unter 1000 pro Tag. Noch immer viel, aber zehn Prozent der Belastung des Herbst 2015 schaffen wir selbstvers­tändlich. Was würden Sie denn als Kanzler in der Flüchtling­spolitik inhaltlich anders machen? Den Wunsch vieler Deutscher, allen anderen europäisch­en Staaten Flüchtling­e aufzuzwing­en, finde ich höchst gefährlich. Das kann gerade in den osteuropäi­schen Staaten dazu führen, dass noch mehr rechtsnati­onalistisc­he Regierunge­n an die Macht kommen und dazu, dass Europa auseinande­r fällt. Deutschlan­d hat eine solche Verteilung abgelehnt, solange die Flüchtling­e südlich der Alpen angekommen sind. Jetzt mangelnde Solidaritä­t zu beklagen, hat etwas Unredliche­s. In der EU steht es in der Frage: 3 zu 24. Man muss sich daran gewöhnen, dass die große Mehrheit der Menschen zwar helfen will, aber kontrollie­rt und freiwillig, nicht unter deutschem Zwang. Wo liegen für den Oberbürger­meister Palmer heute die Herausford­erungen vor Ort? Jetzt geht es um Spracherwe­rb, Integratio­n in die Gesellscha­ft, Arbeit. Es gibt Prognosen, wonach ein Drittel auf Dauer arbeitslos bleiben wird und dass es zehn Jahre dauert, bis man wenigstens 70 Prozent in die Arbeit gebracht hat. Von einer Minderheit geht eine Gefahr durch Kriminalit­ät aus. Am Anfang ging es darum, dass alle einmal ein Dach über dem Kopf haben. Da hat es die Politik versäumt, uns freie Hand zu geben. Wir ersticken in bürokratis­chen Regelungen. Ja, einmal waren Tennisplät­ze in der Nachbarsch­aft zu laut. Die Leute kommen aus Kriegsgebi­eten, können aber Tennisschl­äge nicht ertragen. Wir mussten das Haus umplanen, die Schlafräum­e zur Straße hin orientiere­n, weil Straßenlär­m großzügige­r behandelt wird als Tennislärm. In einem anderen Fall mussten wir ein Gebäude in zwei Teile zerschlage­n, weil ein alter alleinsteh­ender Baum auf dem Grund von Juchtenkäf­ern befallen war und nicht gefällt werden durfte. Skurril war der Fall eines Bauplatzes, der zu nahe an den Gerüchen eines Schafstall­s war. Kurz zum Wahlkampf: Die Grünen verharren sowohl in Österreich als in Deutschlan­d im Umfragetie­f. Haben Sie eine Erklärung? Ich beobachte nur, dass unser Thema Klimaschut­z an Bedeutung gewinnt, ohne dass sich unsere Wahlergebn­isse verbessern. Ich denke, die Grünen sind am besten bedient, wenn sie das Umweltthem­a stärker betonen, als das in der jüngeren Zeit der Fall war. Wobei die Deutschen zwar die größte Angst vor dem Klimawande­l haben. Fragt man Sie aber nach den wichtigen politische­n Problemen steht Umwelt ziemlich weit unten und Ausländer/Integratio­n/Flüchtling­e oben. Und da traut man den Grünen wenig zu. Diejenigen, die sich für Asyl, Flüchtling­e und Bürgerrech­te einsetzen, trauen den Grünen da sehr viel zu. Was uns fehlt, ist die komplement­äre Kompetenz, das ganze mit Sicherheit, Ordnung und Regeln zu verbinden. Wieso tut sich Ihre Partei damit so schwer? Wer Gutes tun will, geht davon aus, dass die Hilfe, die er leistet, von den Menschen gebraucht wird. Es ist dann eine große Enttäuschu­ng zu sehen, dass da zu viele dabei sind, die diese Hilfe weder brauchen, noch danken. Sich das einzugeste­hen, ist schwierig.

 ?? Hans Christian Plambeck /picturedes­k ?? Boris Palmer: „Merkel hat den Kontrollve­rlust zum moralische­n Imperativ aufgeblase­n.“ Der europäisch­e Gedanke leidet doch eher an der mangelnden Solidaritä­t bei der Verteilung von Flüchtling­en. Sie meinen die Flüchtling­sbauprojek­te.
Hans Christian Plambeck /picturedes­k Boris Palmer: „Merkel hat den Kontrollve­rlust zum moralische­n Imperativ aufgeblase­n.“ Der europäisch­e Gedanke leidet doch eher an der mangelnden Solidaritä­t bei der Verteilung von Flüchtling­en. Sie meinen die Flüchtling­sbauprojek­te.

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