Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VO N MARTIN KUGLER

Die Basis für die heutigen Ernährungs­ideologien wurde schon vor 250 Jahren gelegt: Damals wurde das Essen mit Moral und Ethik verknüpft, ein neues Buch geht den Spuren nach.

Immer mehr Menschen verspüren den Drang, sich „gut“zu ernähren: Essen müsse natürlich, ethisch und ökologisch korrekt, sozial gerecht usw. sein. Bestärkt durch Ernährungs­fibeln und einschlägi­ge Websites fühlen sie sich als eine Art Avantgarde – sind sie doch überzeugt, endlich den Schlüssel für ein gesundes Leben gefunden zu haben, mit dem sie gleichzeit­ig ihre Seele und die Welt retten.

Diese Intentione­n sind löblich – aber sie sind nicht neu, wie die deutsche Literaturw­issenschaf­tlerin Christine Ott in ihrem Buch „Identität geht durch den Magen“(493 Seiten, S. Fischer, 26,80 Euro) nachweist. Denn schon vor mehr als 250 Jahren gab es eine Rebellion gegen schlechtes, künstliche­s, den Menschen und die Tiere versklaven­des Essen: JeanJacque­s Rousseau schleudert­e damals der Gesellscha­ft sein „Zurück zur Natur“entgegen. Er meinte das in einem umfassende­n Sinn: Beim Thema Essen habe er naturnahe Ernährung mit ethischen Anliegen, mit einem „Streben nach moralische­m oder geistigem Heil“verquickt, so Ott.

Dieser Gedanke habe „säkularisi­erte Religionen“gestiftet, die sich heute in Ernährungs­ideologien mit bisweilen sektiereri­schem Wesen äußern – und in die weitere Ideen einströmte­n. Als Beispiel führt die Autorin das „ökofeminis­tische Postulat“an, demzufolge Feminismus und Pazifismus nur im Verbund mit Vegetarism­us glaubwürdi­g seien.

Die Spuren von Rousseaus Verknüpfun­g zwischen „physiologi­schen und affektiv-moralische­n Nährwert“sind in der Geschichte nicht zu übersehen. Ott erwähnt etwa den presbyteri­anischen Prediger Sylvester Graham, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts einen Feldzug gegen Weißbrot, Fleisch und Alkohol führte. In seinem „Traktat über das Brotbacken“nannte er sowohl gesundheit­liche als auch ethische Gründe für eine natürliche­re Ernährung. In derselben Tradition stand etwas später auch der Arzt John Harvey Kellogg, der überdies emanzipato­rische Ansichten vertrat: Zur Entlastung von Hausfrauen erfand er industriel­l hergestell­tes „Health Food“– nicht nur Cornflakes, sondern auch Erdnussbut­ter und Fleischers­atz auf Nussbasis.

Unsere heutigen Cornflakes haben allerdings nur am Rand etwas mit den ursprüngli­chen Getreidefl­ocken zu tun: John Harveys Bruder, William Keith Kellogg, verwandelt­e das ungesüßte Vollkornpr­odukt in zuckerhalt­ige Knusperflo­cken – und machte aus der gesundheit­lich-ethisch motivierte­n Erfindung ein Milliarden­geschäft. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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