Hausärzte, die gesuchten Mediziner
Runde 4000 praktische Ärzte gibt es in Österreich. Doch es werden weniger, junge Mediziner wollen lieber ein Fach erlernen. Drei Allgemeinmediziner – aus Stadt, Land und vom Berg – über hohe Investitionen, lange Arbeitszeiten und die Begegnung mit Patient
Donnerstagnachmittag Mitte August. Das Wartezimmer in der Praxis von Hausarzt Hugo Gold in der Taborstraße ist voller Patienten. Eine junge, eindeutig suchtkranke Frau wartet auf ihren Aufruf, links neben ihr ein älterer Mann mit Gehhilfe, schräg gegenüber ein anderer Mann mit seiner kleinen Tochter, die auf einem Kindersessel Platz genommen hat. An der Tür zum Sprechzimmer hängt ein kleines ovales Schild mit dem Wort „Doktor“in Frakturschrift. Darunter klebt ein großes gelbes Poster mit den Worten: „Muslime und Flüchtlinge willkommen“.
Im Sprechzimmer begrüßt einen Hugo Gold mit angenehmem Händedruck. Fotos könne man ruhig machen, aber er sage es gleich: „Ich hasse weiße Mäntel und ein umgehängtes Stethoskop.“Die Klischee-Insignien seines Berufsstands. Der 1,94 Meter große, schlanke Mann trägt ein weißes Hemd mit dezenten Karos, blaue Jeans und hellgraue Superga-Sneakers ohne Socken. Er setzt sich an seinen dunkelbraunen Holztisch, auf dem ein überdimensionaler Flachbildschirm steht, und erzählt. Vor 21 Jahren, mit 40, hat er die Praxis übernommen. „Obwohl ich damals nicht einmal wusste, wo die Taborstraße ist.“Die Gegend war damals eben keine, die man kennen musste. Zwei Millionen Schilling hat er in die Praxis investiert, „ein irrer Schul- denberg“, aber er wollte nach einigen Jahren mit sehr gutem Einkommen in der Pharmaindustrie einen Neuanfang probieren. Seit 2005, sagt er, „läuft es richtig gut“. Fast ein Jahrzehnt hat es also gedauert, bis sich seine Investitionen gerechnet haben. Ein finanzielles Risiko, das viele junge Mediziner heute nicht mehr eingehen wollen. Hugo Gold gehört zu einer Berufsgruppe, die langsam, aber stetig kleiner wird.
Gut 4000 allgemeinmedizinische Praxen mit Kassenverträgen gibt es derzeit in ganz Österreich, 67 davon standen Anfang August leer, elf davon in Wien. Glaubt man der Österreichischen Ärztekammer, dann wird die Zahl der unbesetzten Praxen rapide steigen. Denn zwei Drittel der praktischen Ärzte sind heute über 55 Jahre alt, „in den nächsten zehn Jahren verabschieden sich viele davon in Pension“, sagt Kammer-Vizepräsident Johannes Steinhart. Die Krankenkassen rechnen in den kommenden Jahren mit einem jährlichen Bedarf von 400 Hausärzten. Eine wichtige Säule der Medizinversorgung steckt in der Krise. 45 Euro pro Patient. Zu den ohnehin beunruhigenden Zahlen kam nun noch eine Studie der Medizinischen Uni Graz, die das Desinteresse am Hausarztberuf unter angehenden Medizinern offenbarte. Die Kammer ist also in Alarmstimmung. Außerdem wird bald eine neue Regierung gewählt. In Wahlkampfzeiten melden Interessengruppen gern lauter als sonst ihre Forderungen an die Politik an. Die Grundforderung lautet daher: Die Honorare müssen steigen. Derzeit bekommt ein Hausarzt im Quartal geschätzte 45 Euro pro Patient (Honorare variieren nach Bundesland). Zum Vergleich: Ein Facharzt verdient 70 Euro. Der gerade erst neu gewählte Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres forderte von den Krankenkassen gerade wieder eine Erhöhung der Honorare um mindestens 40 Prozent. Dass die Kammer diesen Summen einst zugestimmt hat, daran wird sich nicht gern erinnert.
Die gerade präsentierte Studie jedenfalls gibt wieder, was viele Mediziner offen oder hinter vorgehaltener Hand sagen: Der Beruf des Hausarztes ist out unter dem Medizinernachwuchs. Die Facharztstelle im Krankenhaus oder eine Facharztpraxis ist für viele interessanter, weil lukrativer und inhaltlich abwechslungsreicher. 34.500 angehende Mediziner wurden für die Umfrage von Med-Uni Graz und Ärztekammer befragt (Rücklaufquote: 13,7 Prozent). Das Ergebnis ist deutlich: Nur zwei Prozent der Medizinstudenten können sich vorstellen, nach dem Studium Allgemeinmediziner zu werden, unter den Turnusärzten sind es immerhin 16 Prozent.
Das Wartezimmer in der Taborstraße leert sich zügig. Hugo Gold ist schnell, aber herzlich. Er hat an diesem Nachmittag ein paar Fälle von beginnender Sommergrippe und einige Durchfallerkrankungen behandelt. Rezepte für Suchtkranke ausgestellt. Kontrollen bei Patienten mit Problemen rund um ihren Bewegungsapparat durchgeführt – ein Gebiet, in dem er eine Zusatzausbildung hat. „Ich verstehe vollkommen, dass die Jungen die- sen Beruf nicht mehr machen wollen“, sagt er. Er selbst hat noch einen alten Vertrag mit 15 Ordinationsstunden, und kann nebenbei einmal pro Woche in der Diakonie in Baden seine Dienste anbieten. Zudem behandelt er pro bono Flüchtlinge. Aber er gibt zu bedenken, dass Allgemeinmediziner auf dem Land immer noch einen 100-StundenJob machen würden. Dafür seien die Honorare zu gering. Gold spricht offen über seine Finanzen. Ihm bleiben im Schnitt 3000 bis 3500 Euro netto pro Monat, davon muss er noch seine private Pensionsvorsorge zahlen. Für diese Summe muss er einen Jahresumsatz von brutto 300.000 Euro im Jahr erwirtschaften. Nach Abzug von Miete, Gehältern für zwei Angestellte und Versicherungen bleibe nicht mehr viel.
»Ich verstehe vollkommen, dass die Jungen diesen Beruf nicht mehr machen wollen.«
Family Practitioner. Clemens Novak ist das, was man einen Landarzt nennt. Er ist der einzige praktische Arzt in der oberösterreichischen Gemeinde
Die Kammer ist alarmiert. Außerdem wird bald eine neue Regierung gewählt.
St. Martin im Innkreis mit 2100 Einwohnern. Vor 15 Jahren hat er die Praxis seines Vaters übernommen, „obwohl ich das zuerst gar nicht vorhatte und mir zuerst alles Mögliche angeschaut habe.“Heute führt er mit 46 Jahren seine gut gehende Ordination mit drei Mitarbeiterinnen und einer Reinigungskraft; 20 Stunden pro Woche ist seine Praxis geöffnet, an den Nachmittagen erledigt er Hausbesuche und sechs Dienste pro Quartal für den Ärztenotdienst. Novak sagt, er würde den Beruf wieder wählen, wenn er jetzt entscheiden müsste. „Er ist nicht so schlecht, wie er derzeit in der Öffentlichkeit dargestellt wird.“Ihm gefällt der amerikanische Begriff des Family Practitioner. Vor allem auf dem Land habe man als Allgemeinmediziner oft eine jahrzehntelange Bindung zu Patienten. „Sie kennen mich, ich kenne sie.“