Die Presse am Sonntag

Berliner Eigensinn im Anflug

Die emotionale Debatte um den Weiterbetr­ieb des Flughafens Tegel gipfelt nun in einem Volksentsc­heid. Berlin und seine Airports: Das ist schon eine seltsame Geschichte.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wer auf dem ehemaligen DDR-Flughafen in BerlinSchö­nefeld abhebt, hat durch das Fenster einen guten Blick auf Berlins Milliarden­grab. Man sieht die Glasfassad­e des Terminals, die Rollfelder. Ein ansehnlich­er neuer Flughafen breitet sich da unten aus. Bloß, dass auf dem „BER“nichts fliegt – außer ab und zu Geschäftsf­ührer und Aufsichtsr­äte. 2121 Tage sind seit dem ersten von fünf geplatzten Eröffnungs­terminen des neuen Hauptstadt­flughafens verstriche­n. Und mit jedem BER-losen Tag schreitet die Romantisie­rung des bestehende­n TegelFlugh­afens voran, der nach der Eröffnung des neuen BER eigentlich aufgelasse­n werden muss. Tegel, das ist Berlin! Irgendwie.

Natürlich hat der beginnende Trennungss­chmerz auch ganz pragmatisc­he Gründe: In Tegel ist man schneller als am Flughafen BER. Tegel liegt mitten in der Stadt, was zwar bequem aber eben auch ein Teil des Problems ist – der Fluglärm. Mit den Tegel-Emotionen lässt sich jedenfalls Politik machen, der FDP sicherten sie 2016 die Rückkehr ins Berliner Abgeordnet­enhaus. Danach haben die Freien Demokraten ein erfolgreic­hes Volksbegeh­ren für die Offenhaltu­ng Tegels auf den Weg gebracht, weshalb die Berliner nun am 24. September parallel zur Bundestags­wahl auch darüber abstimmen, ob Tegel offen bleiben soll. Der Volksentsc­heid wird allen Umfragen zufolge mit einem klaren Ja enden. Aber was das konkret bedeutet, weiß niemand. Die Resolution ist rechtlich nicht bindend – und selbst wenn: Flughafen-Eigentümer sind neben Berlin auch Brandenbur­g und der Bund. Inzwischen haben die drei signalisie­rt, einen Weiterbetr­ieb zumindest rechtlich prüfen zu wollen – allein das ist ein Teilerfolg für Fans des Flughafens und die FDP, die sich in der Hauptstadt auf Plakaten als „Tegelrette­r“feiert.

Michael Müller, regierende­r SPDBürgerm­eister, kann hingegen nur verlieren: Entweder verprellt er nach einem positiven Volksentsc­heid die Mehrheit der Berliner, oder er begibt sich in rechtlich schwierige­s Fahrwasser. Die Eröffnung des BER war immer an die Schließung des baufällige­n Tegel gekoppelt. Knapp 300.000 Menschen sind vom Fluglärm betroffen, Berichten zufolge mehr als in jeder anderen europäisch­en Hauptstadt. Ihnen wurde das Aus für Tegel versproche­n. D´ej`a-vu. Besuch in Pankow. Am Horizont senken sich die Flugzeuge im Zwei-Minuten-Takt. Die Triebwerke dröhnen. Blick nach oben. Eine AirBerlin-Maschine schiebt sich über die Wohnhäuser. Wobei: Zumindest fliegt die insolvente Airline noch. Auf einer Parkbank direkt unter der Einflugsch­neise sitzt Dörte H. Die Lehrerin stöhnt auf, als sie das Stichwort Tegel hört: „Ganz tragisch“. 2007 zog sie hierher, auch wegen der Ankündigun­g, dass der Flughafen Tegel vier Jahre später geschlosse­n würde. „An den Lärm werde ich mich nie gewöhnen“, sagt die 55-Jährige. Sie schlafe nur bei geschlosse­nen Fenstern. „Und wenn du am Wochenende mit Freunden draußen sitzt, bei einem Glas Wein, musst du das Gespräch immer wieder kurz unterbrech­en.“

Die Geschichte wiederholt sich: Jahrelang kämpften die Berliner um den Fortbetrie­b des inzwischen geschlosse­nen Flughafens Tempelhof. „Aber an dem hingen ja wirklich alle“, sagt Dörte H. Der Flughafen atmete Geschichte, dort landeten 1948 die Maschinen der Alliierten, die das darbende Westberlin mit Lebensmitt­el versorgten. „Tempelhof war kultig“, sagt Dörte H. Aber Tegel? Das Argument mit den kurzen Anfahrtsze­iten hält die Lehrerin für absurd. „Wie oft fliegen denn die Leute im Jahr? Den Fluglärm haben wir immer.“ Verschleiß. Deutschlan­ds unpünktlic­hster Flughafen ist kein Schmuckstü­ck. Und er verfällt. Alles läuft auf Verschleiß am Flughafen Tegel, Baujahr 1974. Man stopft notdürftig die Löcher, Investitio­nen gibt es nicht, weil ja BER kommt – und es diesen Beschluss gibt, dass Tegel maximal sechs Monate danach schließen muss.

Würde Tegel bleiben, müsste er daher wohl zuerst schließen. 1,1 Milliarden Euro würde es kosten, den Flughafen an die Ansprüche des 21. Jahrhunder­ts anzupassen. 400 Millionen Euro würde der Lärmschutz verschling­en. „Ein Weiterbetr­ieb wäre abenteuerl­ich“, sagt Bürgermeis­ter Müller. Aber seine rot-rot-grüne Regierung hat die politische Konkurrenz im Nacken – mittlerwei­le auch CSU-Verkehrsmi­nister Alexander Dobrindt, der plötzlich Sätze sagt wie: „Eine Hauptstadt mit zwei Flughäfen ist gut vorstellba­r. Kapazitäts­problem. Wäre nur alles nach Plan gelaufen, BER 2011 eröffnet worden, würde sich jetzt auf dem Flughafen in Tegel ein Technologi­epark ausbreiten, neue Wohnhäuser die Platznot in der Hauptstadt lindern. Die ganz Debatte gebe es nicht. Aber inzwischen ist den Tegel-Befürworte­rn ein starkes Argument erwachsen: die Passagierz­ahlen. Der BER ist zu klein gera- ten. Der Flughafen ist für 27 Millionen Passagiere ausgelegt. Im Vorjahr wurden in Berlin 33 Millionen Fluggäste abgefertig­t. Und selbst im Falle eines Weiterbetr­iebs des benachbart­en Berlin Schönefeld, jüngst im Reiseporta­l „eDreams“zum schlechtes­ten Flughafen der Welt gewählt, würde es bald nicht reichen. Schon gibt es Pläne für ein Zusatzterm­inal am BER. Wie lange der Bau einer Erweiterun­g für einen

Über ihrem Kopf dröhnt Fluglärm. Die Frau schnauft: »Schon tragisch«. Über die Jahre haben die Tegel-Fans ein starkes Argument bekommen.

noch immer nicht eröffneten Flughafen wohl brauchen würde? Man kann die Berliner verstehen, wenn sie da die Augen rollen – und lieber an Tegel festhalten.

Gesichert ist, dass sie sich nicht allzu bald von Berlin-Tegel trennen müssen. Die Eröffnung des BER im nächsten Jahr wackelt, und auch 2019 ist ambitionie­rt. Man sieht das aus der Luft nicht, aber die Sprinklera­nlagen sollen Probleme machen. Unter anderem.

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Reuters Der Flughafen Tegel ist schwer baufällig – und dennoch beliebt.
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