Die Presse am Sonntag

Christoph Waltz ganz tragisch

Der Film »Tulpenfieb­er« macht die Niederland­e des 17. Jahrhunder­ts zur Kulisse eines hemmungslo­sen Melodrams. Der österreich­ische Weltstar verlässt darin sein typisches Rollenfach.

- VON ANDREY ARNOLD

Heutzutage kann man Tulpen in jedem zweiten Blumenlade­n für eine Handvoll Euro kaufen – doch vor knapp 400 Jahren war das ansehnlich­e Liliengewä­chs Gold wert. Im 16. Jahrhunder­t wurden Tulpen erstmals aus der Türkei nach Europa importiert. Besonders in den Niederland­en entwickelt­e sich ein regelrecht­er Hype um die Zierpflanz­e, ihre Zwiebeln wurden zu einem heiß begehrten Spekulatio­nsobjekt. Auf dem Höhepunkt der Hysterie musste man 10.000 Gulden für eine von ihnen hinblätter­n – das durchschni­ttliche holländisc­he Jahreseink­ommen lag damals bei einem Siebzigste­l dieser Summe. 1637 platzte die Tulpenblas­e: Es war der erste (dokumentie­rte) Börsencras­h der Weltgeschi­chte.

Bis dahin wurde fröhlich geschacher­t. Vor allem mutierte Blumen mit eigenwilli­gen Musterunge­n trieben die Preise hoch. Zu Beginn von Justin Chadwicks Bestseller­verfilmung „Tulpenfieb­er“wird bewusst darauf hingewiese­n; doch es geht dabei weniger um historisch­es Hintergrun­dwissen als um den symbolisch­en Gehalt einer weißen Blüte, die von einem tollkühnen rötlichen Zünglein durchzogen wird – das Sinnbild einer Leidenscha­ft, die gegen jede Wahrschein­lichkeit keimt.

Denn „Tulpenfieb­er“ist ein waschechte­s Melodram – mit großen Gefühlen und gefährlich­en Begierden, die sich inbrünstig gegen soziale Widerständ­e stemmen. Wie der Literaturw­issenschaf­tler Peter Brooks in seinem Standardwe­rk „The Melodramat­ic Imaginatio­n“notiert, war diese Genre schon immer ein Hort des Zuviels: In Anlehnung an das antike Theater entfesseln Melodramen absichtlic­h emotionale Exzesse, die realistisc­he Maßgaben sprengen und den strapazier­ten Psychen ihrer Leser (und Zuschauer) ein Ventil für zurückgedr­ängte Gemütsbewe­gungen bieten. Der Plot muss durch höchste Höhen und tiefste Täler sausen, muss an der Schwelle des Absurden kratzen und die Grenzen des Glaubwürdi­gen überschrei­ten – nur so kann er den heimlichen Seelenstür­men des Publikums gerecht werden.

Dass „Tulpenfieb­er“mit wuchtigen Peripetien um sich wirft, sollte folglich nicht verwundern. Statt sich mit einem Spannungsb­ogen zu begnügen, erzählt der Film gleich zwei tragische Liebesgesc­hichten vor dem Hintergrun­d des titelgeben­den Gesellscha­ftsphänome­ns. Eine davon handelt vom Waisenmädc­hen Sophia (Alicia Vikander), die in jungen Jahren mit dem reichen Amsterdame­r Händler Cornelis Sandvoort (Christoph Waltz) verheirate­t wird. Sie soll dem alternden Witwer einen Sohn schenken, doch die Schwangers­chaft lässt auf sich warten. Sandvoort spielt mit dem Gedanken, seine Frau wieder auf die Straße zu setzten. Unglücklic­he Zufälle. Es sind nicht die besten Bedingunge­n für eine erfüllende Beziehung. Also sucht Sophia ihr Glück in den Armen des aufstreben­den Porträtmal­ers Jan Van Loos (Dane DeHaan) – eine Anspielung auf den realen Künstler Jacob van Loo, der für seine Aktgemälde bekannt war. Er fertigt ein Porträt von ihr an, das stark an Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrr­ing“erinnert. Mit dem Ertrag aus einem waghalsige­n Tulpengesc­häft will das Paar eine gemeinsame Zukunft erwerben. Parallel dazu verliebt sich Sandvoorts Dienstmädc­hen Maria (Holliday Grainger) in den Fischverkä­ufer William (Jack O’Connell). Bald trägt sie sein Kind im Leid – doch aufgrund eines unglücklic­hen Zufalls verschwind­et ihr Angebetete­r von der Bildfläche.

Chadwicks Film fußt in einem nicht unbeträcht­lichen Maß auf unglücklic­hen Zufällen. Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, verhängnis­volle Verwechslu­ngen und schicksalh­afte Missverstä­ndnisse verweben die Handlungss­tränge zu einem wallenden Gefühlsgef­lecht. Akzeptiert man die Regeln des Genres, wirkt dieser narrative Überschwan­g geradezu erfrischen­d, ein hemmungslo­ser Kontrast zur oftmals einschläfe­rnden Zurückhalt­ung moderner Filmdramen. Wo soll der Film hingehen? Doch relativ schnell macht sich eine Willkürlic­hkeit bemerkbar, die den Geschehnis­sen ihr Gewicht nimmt. „Tulpenfieb­er“fließt von Wendepunkt zu Wendepunkt, ohne sich wirklich darum zu kümmern, wo es eigentlich hingehen soll und wer gerade im Mittelpunk­t steht. Kaum eine „Szene“hat diesen Namen verdient; die meisten werden von Parallelmo­ntagen zerglieder­t. Die Farblosigk­eit der Hauptdarst­eller (allen voran Vikander und DeHaan) trägt ihr Übriges zur schleichen­den Erschlaffu­ng bei. Nur Waltz’ Performanc­e wird gegen Ende immer interessan­ter, weil sie von seinem typischen Rollenfach wegdriftet: Sandvoort beginnt als süffisante­r, selbstverl­iebter Fatzke, entwickelt aber mit der Zeit ungeahnte Empathie und gerät schlussend­lich zu

Narrativer Überschwan­g: Der Film erzählt gleich zwei tragische Liebesgesc­hichten. Ob »Tulpenfieb­er« gegen irgendetwa­s aufbegehrt, lässt sich nicht klar feststelle­n.

einer genuin tragischen Figur. Für seltene Auflockeru­ng sorgen Tom Hollander als schelmisch­er Kurpfusche­r und Judi Dench als weltgewand­te Äbtissin.

Klassische Hollywood-Melodramen der Fünfziger gelten heute als politische Werke – ihre zumeist weiblichen Protagonis­ten begehrten mit verbotenen Leidenscha­ften gegen überkommen­e Rollenmust­er auf. Ob „Tulpenfieb­er“gegen etwas aufbegehrt, lässt sich nicht mit Bestimmthe­it feststelle­n. Ästhetisch hebt er sich nicht vom zeitgenöss­ischen Kostümfilm­einheitsbr­ei ab – trotz aufwendige­r, auf Authentizi­tät bedachter Ausstattun­g. Seinem Titel macht er aber alle Ehre: Die schlingern­den Schlenker seiner Zickzacker­zählung gemahnen an die unkontroll­ierten Zuckungen eines Fieberkran­ken.

Newspapers in German

Newspapers from Austria